Weltbilder

... und andere Selbsttäuschungen

Wir haben alles in allem die unangenehme Angewohnheit, alles, was wir sind, wie wir Dinge tun, was wir denken und zu wissen glauben, wie wir Politik machen, Wirtschaft und Gesellschaft gestalten, sei alles irgendwie „natürlich“ und hätte im Laufe der Weltgeschichte genau so kommen müssen. Wir halten uns für zivilisiert, während wir bei anderen gern Folklore mit Kultur verwechseln, und sind uns sicher zu wissen, was „der“ Mensch sei. Die einen bevorzugen Hobbes, die anderen Rousseau.
Das ist natürlich alles Unsinn, was wir wissen könnten, wenn wir einmal genau hinsähen und ein wenig Überheblichkeit ablegten. Dann verstünden wir ziemlich schnell, dass die Bilder, die man uns malt, nicht sehr viel mit der Wirklichkeit zu tun haben und dass alle unsere Weltbilder, in denen wir es uns mit unseren ergaunerten Gewissheiten bequem gemacht haben, von vorne bis hinten getürkt sind.

„The conventional narrative of human history is not only wrong, but quite needlessly dull.“

… erklären uns der Ethnologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow in ihrem Buch „Anfänge“, in dem sie ein Gutteil Menschheitsgeschichte gegen den Strich bürsten und die sich dabei als echte Märchenkiller betätigen. Dieses Buch ist ein Fest. Wenn Sie es lesen – und das sollten Sie wirklich tun – ist nichts mehr, wie es vorher war. Es ist ein Abenteuer, in dessen Verlauf alles auf den Kopf gestellt wird, was Sie über das Menschsein und seine vermeintliche „Natur“ bislang als gesichert annahmen. Es ist eine Erwiderung auf diejenigen schlampigen Kulturanalysen, die nicht redlich und immer interessengeleitet sind und zeigt uns die Tatsache, dass es ein Entkommen aus einer Kultur geben kann, die die meisten von uns übel mitspielt.

In den aufgeklärten Teilen der Anthropologie und der Archäologie ist vieles von dem, was Graeber und Wengrow in ihrer intelligenten Analyse und Synopse zeigen, schon seit geraumer Zeit bekannt. Vom Mainstream in diesen Fächern wie auch in der Geschichtswissenschaft, der Ökomomie und vor allem der sogenannten Politikwissenschaft (alle aufgeklärten Politologen mögen mir vergeben) wurde und wird die vorliegende Evidenz aber schlicht und wenig ergreifend ignoriert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Das Buch ist mit gut 700 Seiten ein dicker Brocken – nicht zu viel für diejenigen, die noch Spaß an echten Entdeckungen, Abenteuern, Vorstößen ins Unbekannte und an der Lust am Selberdenken haben.

 

Dass die Evolution auch etwas gewesen sein könnte, als das allzu raue „survival of the fittest“ in finsterer Konkurren zu allen anderen, zeigt uns Joseph Meeker in seiner „The Comedy of Survival“. Der Untertitel „Studies in Literary Ecology“ mag ein wenig verwirrend klingen. Aber Meeker, Humanökologe und Literaturwissenschaftler, zeigt geistreich und humorvoll, dass das wahre Menschenwesen – im Einklang mit der Evolution – im Grunde das Schelmentum ist. So wie das „survival of the fittest“ kein blutiger Kampf ist, sondern ein „muddling through“, so sind die Schelme und die Trickster all den tragischen Helden, die ihr kurzes Leben für abstrakte Ideale opfern, zu allen Zeiten und in allen Situationen überlegen.

P.S. Meekers Verweise auf Joseph Hellers Catch 22 sind hochkomische Augenöffner. Ich kann mir im Moment kaum einen besseren Roman vorstellen, um diese Zeiten entschlossenen Zivilisationsverzichts zu beschreiben.

Eine für viele strapaziöse Behauptung stellt der französische Soziologe Bruno Latour auf. „Wir sind nie modern gewesen“, wirft er uns an den Kopf.
Der französische Soziologe enthüllt uns mit manchmal leisem Humor, dass unsere Illusionen über die Moderne und über uns als moderne Menschen nichts weiter als Rauchschirme und Nebelkerzen sind, die einer genauen Prüfung nicht standhalten. Die Selbstzuschreibung der „aufgeklärten“ Welt brauchte und braucht starke Gegenbilder und erklärt alle anderen auf der Welt zu besinnungslosen Deppen (eine Haltung, die zunehmend auch gegenüber Gruppen in der eigenen Gesellschaft eingenommen wird) – was auch die Rechtfertigungen für Völkermord und Totschlag, Raub und Unterdrückung seitens der „aufgeklärten“ Nationen leichter machte. Die „schlampigen Kulturanalysen“ (s.o. Graeber und Wengrow) tun ein Übriges. Latour bietet keine leichte Kost, aber die Expedition lohnt sich unbedingt. „Nie modern …“ und „The Dawn of Everything“ von Graeber und Wengrow zusammen werden zu einem atemberaubenden Abenteuer, nach dem man sich wie geistig frisch gewaschen fühlt.

James C. Scott, Spezialist für Politische Anthropologie und Widerstandsexperte, erzählt (unter anderem) eine Geschichte armer Leute und wie sie sich jenseits und außerhalb „offizieller“ Rede- und Verhaltensweisen in einem Umfeld herumschlagen, das nicht zu ihren Gunsten ausgelegt ist. Da ihnen Mittel und Möglichkeiten fehlen, in den offenen Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu ziehen, entwickeln sie Methoden pfiffiger Subversion, die für die jeweiligen Obrigkeiten weder erkennbar noch durchschaubar sind – genau so wenig, wie die Hinterzimmerabsprachen der Profiteure der Armut der anderen (auf den ersten Blick) erkennbar sind. Diese Methoden nennt Scott „hidden transcripts“.
Insgesamt ist es eine unglaublich spannende Studie über Hegemonie, Unterwerfung und Widerstand.

So geht es nicht weiter. Sagen alle, sagt auch Martha Carli, Spezialistin für das Sitzen zwischen den Stühlen. Nichts stimmt mehr. Die Nachrichten stammen aus einem fremden Land, das Schiff ist aus Pappe, das Meer aus Plastikfolien. Die Mäuse fressen die Katzen, der Wagen zieht das Pferd, der Ochse schlachtet den Metzger, und der arme Mann gibt dem Reichen Almosen.
Aber das kennen Sie schon. Steht schon so im Handbuch. Also schlagen wir einen anderen Weg ein.

Kommen Sie mit auf eine Reise in eine scheinbar unbekannte, unwirtliche und verkehrte Welt, die bei näherer Betrachtung doch merkwürdig vertraut wirkt. Sie ist bevölkert von Wesen, die fremd scheinen und doch ganz nah sind. Alle an der Schwelle zum Wahnsinn, alle kurz vor dem Scheitern.

Wir begegnen einem flüchtenden Möchtegern-Weltenlenker (mit Kurbel) und seinen botmäßigen Vasallen, treffen (indirekt) einen voll verdrahteten Philosophenkönig (Borgosoph) in seiner altbackenen Utopie, erleben einen Rausch aus Firlefanz-Ökonomie samt König (Import-Export) in einem gefälschten Schloss, entdecken das Elend der Helden und den Schaden, den sie anrichten (Hamlet schließt sich den Schelmen an …) und finden uns schließlich in einer Akademie wieder, die im Kern ein Hohlkörper ist und zur Unterhaltung der dummen Leute „da draußen“ einen Zirkus betreibt (inklusive Gummi-Enten und Geist im Gefäß).

Die Reisegesellschaft besteht aus gelehrten Schelmen und Ehrenschelmen, die einander und uns das Erlebte erklären und ins rechte Licht rücken. Gelegentlich wird gelacht über die Märchen, die wir uns und anderen über uns selbst, über unsere Geschichte und unsere „Zivilisation“ erzählen. Am Ende der Reise – in der Schelmenrepublik – wird klar, dass in der „Gefälschten Welt“ nichts so ist, wie es scheint.

Nichts stimmt. Der Staat ist ein peinliches Versehen, die Aufklärung verfolgt die Hexen, der Fortschritt geht nach hinten los, die Helden sind die Verlierer der Geschichte, die „Wissenschaft“ ist nurmehr eine Gegenveranstaltung zur Wirklichkeit und die Zivilisation … das sind die anderen

Die Bücher


David Graeber und David Wengrow

The Dawn of Everything. A New History of Humanity, Toronto 2021 (dt. Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022)

Joseph W. Meeker
The Comedy of Survival, Los Angeles, 1972

Joseph Heller
Catch 22, New York 1961

Bruno Latour
„Wir sind nie modern gewesen“ Frankfurt a.M. 2008

James C. Scott
Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts Yale University Press 1990

Martha Carli
Schelmenrepublik, Berlin 2022            
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