Aufklärung

Haben Sie etwas zu verbergen?

Bücher, die einen Blick hinter die Kulissen werfen, die etwas ans Licht bringen, was andere geheimhalten wollten, die uns aufklären über finstere Machenschaften, landen mit schöner Regelmäßigkeit auf den Bestsellerlisten. Allerdings ist der Weg dahin kein Spaziergang. Wer sich mit heiklen Themen befasst, die womöglich mächtige Interessen berühren, hat keinen Spielraum, was die Genauigkeit der Recherche angeht – wenn es um reale Ereignisse geht. Eine andere Art der Aufklärung ist es, scheinbar bekannte Sachverhalte aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten und vermeintlich sicheres Wissen gegen den Strich zu bürsten.

Praxis
Für mögliche Praxisansichten sind hier zwei Titel gewählt, die etwas mit unserem Wirtschaftssystem zu tun haben und gewisse ernst zu nehmende Schwächen auf sehr unterschiedliche Weise darstellen.

Der Journalist Massimo Bognanni nimmt sich eines Themas an, das die Gemüter erregt.
„Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik“ schaffte es auf Platz 2 auf der Liste der besten Wirtschaftsbücher 2022. Bognanni schreibt konkret und nah an den beteiligten Menschen. Abstraktionen sind der Aufklärung nicht dienlich (ein Grundproblem wissenschaftlichen Schreibens, das sich zwar der Aufklärung verscheibt, aber nichts erreicht), wenn keinen Bezug zur Wirklichkeit konkreter, betroffener Menschen haben. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Menschen wollen Geschichten über Menschen.
In seinem Buch verwischt Bognanni die Grenzen zwischen Sachbuch und Belletristik – was aber auf keinen Fall fiktionales Schreiben meint, sondern vielmehr die Verschränkung faktizierender und narrativer Textpassagen. Basis von allem ist akribische Recherche „bis auf den i-Punkt“, bei der jedes Detail stimmen sowie alles belegbar und dokumentierbar sein muss.
Nachvollziehbare Präzision ist auch bei der Struktur derlei komplexer Themen gefragt, wie dem gerissen verschleierten gigantischen Cum-Ex-Raubzug. Bognannis Buch hat zwei Erzählstränge, einen True-Crime-Strang und einen Staatsstriemen, die nach dem Reißverschlussprinzip ineinander verschränkt werden und so auch tatsächliche Verstrickungen widerspiegeln. Jedes einzelne Kapitel funktioniert zwar für sich allein, aber gemeinsam ergeben sie ein sinnvolles Ganzes.

 

César Rendueles bietet Aufklärung auf etwas andere Art zu einem verwandten Thema. In seinem ebenso scharfsinnigen wie amüsanten Buch „Kanaillenkapitalismus“ decouvriert der spanische Soziologe den Unfug, das die heutige Art zu wirtschaften eine Art natürlicher Zustand der Menschen sei. Marktgeschehen war in der Geschichte aller Kulturen immer nur eine „Randerscheinung mit einer beschränkten Bedeutung“, klärt er uns auf. Die heutige Form des Wirtschaftens beginnt Anfang der 70er-Jahre in Chile. Rendueles schildert die Folgen des im wahrsten Sinne mörderischen Experiments mit „freien Marktkräften“, das unbeschreibliches Elend über Millionen von Menschen brachte und fährt fort: „Der freie Markt ist keineswegs der spontane Ausdruck eines in der menschlichen Natur begründeten Unternehmergeistes. Bis zur Moderne war keine Zivilisation so dumm, ihr materielles Überleben dem kommerziellen Glücksspiel anzuvertrauen.“ Rendueles vermittelt uns sein großes Wissen darüber, wie die Welt vor der „freien“ Marktwirtschaft aussah und wie die ökonomische Logik nach und nach alle Lebensbereiche durchdrungen hat und wählt dabei eine ungewöhnliche Methode:
Sein Wissen entstammt  auch der Lektüre fiktionaler Literatur. Anhand von Klassikern wie Robinson Crusoe und Kultbüchern wie American Psycho zeichnet er den Zerstörungsweg des Kapitalismus (der nicht dasselbe ist wie Handel!) nach. Doch in Büchern steckt immer auch die Revolte. Finden Sie sie!

Die Bücher

Massimo Bognanni
„Unter den Augen des Staates. Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik“, München 2022

César Rendueles Kanaillenkapitalismus, Berlin 2018

Mehr Leseempfehlungen

David Talbot
Das Schachbrett des Teufels. Die CIA, Allen Dulles und der Aufstieg Amerikas heimlicher Regierung, Frankfurt 2016

Robert Newman
„Neuropolis. A Brain Science Survival Guide“, London 2017

Newman kritisiert das reduktionistische Weltbild moderner Wissenschaft und zeigt – anders als ein tief in unserer Tradition verwurzelter Leib-Seele-Dualismus es behauptet – dass Gehirn und Körper untrennbar miteinander verbunden sind ebenso wie die natürliche Welt und die von uns gemachte Welt. Newmans kluges und witziges Buch ist im besten Sinne Aufklärung mit Genuss.