Lebenskunst

Es gibt immer eine Alternative

Es ist so eine Sache mit der Lebenskunst. Von den einen verpönt, weil sie die neoliberalen Exzesse und Effizienzdelirien stört, von den anderen in allen möglichen Ratgebern auf eine Art Micky-Maus-Format geschrumpft, die am Ende das sind, was Ronald Purser (siehe „Lebensdienliches Wissen“) in seinem erhellenden Buch „McMindfulness“ beschreibt.
Wer zu einem guten Maß an Lebenskunst gelangt ist, lässt sich nicht mehr so leicht von den Trivialitäten erschrecken, die manche Leute aus die „großen Themen“ der Zeit aufplustern (und sich selbst gleich mit). Sie lassen sich auch nicht davon einschüchtern, „Versager“ oder „gescheiterte Existenzen“ genannt zu werden. Sie wissen es besser.

So, wie Joe Moran, Professor für Englisch and Kulturgeschichte in Liverpool, uns das schönste Buch übers Schreiben geschenkt hat, so hat er auch das schönste Buch über Versager und Versagen geschrieben. „If You Should Fail“ ist kein Ratgeber, wie Moran gleich zu Beginn betont, sondern ein Buch des Trostes, der nicht wohlfeile Oberflächenberuhigung oder Platitüden über seichtes Happyhappy meint, dass am Ende schon alles gut werde. Vielmehr ist es ein Buch, das das Scheitern wieder in sein angestammtes Recht im menschlichen Leben setzt – in einer Kultur, die dumm genug ist, alles auf „Erfolg“ zu setzen, der doch nur allzu oft auf Kosten anderer erschlichen oder erzwungen wird.
Kein Ratgeber für Self-Improvement also oder eines der neuerdings modischen Bücher, die uns, ohne einen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen, mit moralischen Appellen auffordern, doch bitte nett zueinander zu sein, damit alles gut werde.

Praxis
Auch Moran tut, was gute Sachbuchautoren tun. Er verbindet die Anekdote mit dem großen Ganzen, die Einzelbeobachtung mit Gesellsckaftskritik, wenn er beschreibt, wie Abgeordnete in Zeiten der Austeritätspolitik ohne nachzudenken an einem Obdachlosen vorbeigehen können. Ich-Erzählung wechselt mit Expertenkommentaren, dem Blick auf andere Kulturen und weiteren politischen Kommentaren. Und immer wieder geht er in zeitliche Tiefe zurück, um heutige Verhältnisse kulturhistorisch herzuleiten und in ihre Logik zu setzen, die nichts mit „natürlichen“ Eentwicklungen oder „der“ Natur „des“ Menschen zu tun hat, wie uns die Profiteure dieser Ideologien immer gern einreden wollen. Und um dem Märchen zu widersprechen, dass wir alles Scheitern nur uns selbst zuzuschreiben haben.

Joe Morans Buch ist ein Buch über das Menschsein jenseits der Selbstautomatisierung und Unterwerfung unter „Ideale“ und eine „Moral“, die immer nur anderen nützen, ein Buch für Menschen, die man zwingen will zu verzweifeln, wenn sie den obszönen Anforderungen heutigen „Business“-Lebens nicht gerecht werden können, denen die pathologische Lebensfeindlichkeit dieses Systems als eigenes Versagen vorgehalten wird, damit man die wirklich Schuldigen nicht zur Rechenschaft ziehen kann. Es sind Figuren, die das ganze Leben zum Wettbewerb machen und einen sinnlosen Preis nach dem anderen verleihen, um die Menschen im Hamsterrad zu halten, nicht, dass sie sich am Ende noch aus eigenem Entschluss mit etwas Sinnvollem beschäftigen und ihr eigentliches Potential ausschöpfen.

Apropos Effizienzdelirien. Carl Honoré wirft den Blick auf One-Minute-Manager, One-Minute-Bedtime-Stories und One-Minute-Bibeln, die neuerdings großen Absatz finden – kein Wunder, will man meinen, wenn die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird, bei durchschnittlichen Zehnjährigen gerade einmal 90 Sekunden.
In „Slow Life“ (das ist der deutsche Titel 🙂 ) stellt der Autor uns Lebensbereiche vor, die vom Geschwindigkeitsrausch so erfasst sind – Sport, Arbeit, Medizin, Sex, Stadtleben, Kinder und Freizeit – dass man das richtige Leben irgendwie aus den Augen verliert.

Honoré gehört zu den Pionieren der „Slow“-Bewegung, genießt Slow Food, besucht Slow Cities oder Slow Work, die alle zeigen, dass es auch anders geht.

Praxis
Ähnlich wie Joe Moran schildert er eigene Erlebnisse, die er in in größeren Kontext einbettet. Er bietet jede Menge Statistiken, garniert mit Geschichten, Hintergrundinformationen über wirtschaftliche und politische Zustände, die sich mit kulturellen Wahnsystemen mischen und zum Beispiel einen Japaner hervorbringen, der sich nach vielen 90-Stunden-Wochen mit 26 Jahren im wahrsten Sinne des Wortes tot arbeitet und anschließend als Held gefeiert wird.

Das Buch ist entlang der Hauptthemen strukturiert: Geschwindigleit vs. Langsamkeit in den einleitenden Kapiteln, anaschließend Ernährung, Stadt, Leib und Seele, Medizin, Sex, Arbeit, Freizeit und Kinder. Schluss und Zusammenfassung werden musikalisch und fragen danach, wie wir das uns allen zuträgliche Tempo Giusto finden.

Insgesamt ein gutes Struktur- und Dramaturgievorbild in der Mischung aus eigenem Erleben, größerem Kontext, kulturellen und historischen Einordnungen, Statistiken und Anekdoten, wo sie passen.

Die Bücher


Joe Moran
If You Should Fail. A Book of Solace, London 2021

Carl Honoré
In Praise of Slow. How a worldwide movement is challenging the cult of speed, London 2004
(dt. Slow Life, München 2007)

Mein ganz persönlicher Lieblingslebenskunstlehrer:

Epikur
Philosophie des Glücks.

In vielen Ausgaben, gut zu finden.
Martha Carli ist so freundlich, uns ihren Ratschlag „Epikur lesen“ aus ihrem Schelmenhandbuch zur Verfügung zu stellen.

Mehr Leseempfehlungen

Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit (Le Droit à la paresse), Paris 1883. Deutsch von Eduard Bernstein. Köln, 2015
James C. Scott, Domination and the Art of Resistance
ders., Two Cheers for Anarchism
Martha Carli, Schelmenhandbuch, Berlin 2022
Tom Hodgkinson, Anleitung zum Müßiggang, Berlin 2014