Über Paul Lafargue, einen Anti-Faulpelz-Kanzler, die Sünden der guten Christen und anderer Ideologen, Schlafmangel und Vergesslichkeit im digitalen Rauschen.
Weder Maschinenarbeit noch Digitalisierung brachten die Befreiuung von zu viel Arbeit. Was also ist schief gegangen?
Self-Improvement oder Leben?
Über einen schweren Irrtum moderner Zeiten
Effizienzdelirien und sozialer Druck der Selbstoptimierung (um die Ecke steht ein Wagen mit der Aufschrift „Business-Yoga“) machen das Leben zu einem stress-beladenen Projekt, die Arbeit wächst ins Privatleben, als hätte es nie Gesetze gegeben. Verlangt wird, zu arbeiten bis zum Abwinken und zum Trost zu konsumieren, bis die Vorstellungskraft, was man noch alles kaufen könnte, schließlich versagt. „Nebenbei“ geht der Planet vor die Hunde.
Wir wissen schon lange, dass zu viel Arbeit und vor allem zu viel falsche und unsinnige Arbeit krank macht – und volkswirtschaftlich auch gar nicht nötig ist. Produktionssteigerung durch Arbeitszeitreduktion ist fast schon ein alter Hut.
Warum also wird dieses wundersame Instrument so wenig genutzt?
Weder Maschinenarbeit noch Digitalisierung brachten die Befreiuung von zu viel Arbeit, wie der Ökonom John Maynard Keynes es vor 70 Jahren prognostizierte. Es hätte natürlich so sein können. Die Arbeit für Menschen würde weniger und wäre gerecht verteilt, meinte er …
Back in the 1930s, economists, intellectuals and trade union leaders were united in the belief that a shorter working day was fast approaching. The machines would shoulder more and more of the toil, they reckoned, leaving lots of time off for workers. A three or four day week would be ample to procure the necessities of life. The increase in leisure would be spent pursuing healthful recreations such as philosophy, dancing, sewing, cooking and wandering through the woods collecting mushrooms.
Tom Hodgkinson, The Idler
Doch der „feudalistische Charakter“ des herrschenden Wirtschaftsystems braucht jede Menge „Bullshit Jobs“, damit seine Profiteure Hof halten können, entdeckt uns der Ethnologe David Graeber. Es braucht außerdem die ungleiche Verteilung der Arbeit, damit die Angst derjenigen, die noch Arbeit haben, virulent bleibt ebenso wie die Ressentiments der „kleinen Leute“ gegen die „Faulpelze“ und „Schmarotzer“.
Ein Ritter gegen die Faulpelze
Es war einmal ein „sozialdemokratischer“ Bundeskanzler, der das pfiffig erkannte und die schweren moralischen Geschütze auffuhr. Wie ein Ritter in schimmender Wehr zog er gegen die Faulpelze und die Arbeitsverweigerer in die Schlacht, darunter Massen von Arbeitslosen, die von einem längst dysfunktionalen Wirtschaftssystem hinausgeworfen und ersatzlos gestrichen worden waren.
Schließlich hatte er eine neoliberale Agenda durchzusetzen.
Natürlich hatte Gerhard Kein-Recht-auf-Faulheit Schröder seinen Paul Lafargue gelesen und wusste, warum er uns mit sowas kommen konnte.
„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht“, schreibt Paul Lafargue in seinem Lob der Faulheit, „eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.“
Fromm und fleißig
Die Protestantische Ethik in ihrer „pathetischen Unmenschlichkeit“ (Max Weber) mitsamt ihren puritanischen Moralaposteln, die sonntags in der Kirche predigten, dass Vergnügen Sünde sei und Widerstand erst recht, fundierte einen bedeutenden Teil der Ideologie, ohne die heutiges Wirtschaften undenkbar wäre. „Die Freiheit eines Christenmenschen“, postuliert von einem erklärten Bauernfeind und glühenden Antisemiten namens Martin Luther wurde schnell die Freiheit, seine Mitmenschen bis aufs Blut auszubeuten.
Der Lohn? Nur rechtes Knechten erhebt die armen Teufel ins Himmelreich und bewahrt sie vor Beleidigungen späterer Bundeskanzler. Schon Kinder wurden früh mit Schreckensbildern von Höllenqualen terrorisiert. Aus ihnen würden gehorsame Erwachsene, die fortan das stille Leiden akzeptierten.
Harald Welzer fasst zusammen: „Die disziplinierenden Aspekte der Arbeit, die der frühe Kapitalismus so ideenreich entfaltete, wären ohne ihre religiös-moralische Aufladung nicht so erfolgreich durchsetzbar gewesen.“
Methoden der Dressur
Menschen haben es nicht „in den Genen“ von früh bis spät zu schuften. Man musste sie abrichten. Man ließ sie bei niedrigsten Löhnen absichtsvoll hungern, um sie willfährig zu halten und um jeden „dummen“, das heißt selber gedachten Gedanken im Keim zu ersticken.
In seiner „Protestantischen Ethik“ beschrieb Max Weber die Vorstellung, dass der liebe Gott den guten Kaufmann und den erfolgreichen Fabrikanten ganz besonders liebt. Im Fleiß lag die höchste Tugend. Dummerweise war es in der Regel der Fleiß der Arbeiter, der dem Unternehmer die Fahrkarte ins Himmelreich verschaffte. Denn wie genau der gottgefällige Reichtum entstand – da sah der liebe Gott nicht so genau hin.
So wurden – in der Regel unterstützt von Regierungen – die Maschinen zu Instrumenten, den Reichtum Weniger zu mehren, während die Mehrheit viele lange harte Stunden arbeiten musste. Mehr Zeit für die hart arbeitenden Reichtumsmehrer wurde erst nach und nach gewährt, wenngleich bis heute nicht in dem Maße, wie das möglich wäre. Unterstützt wird allerdings etwas anderes.
„Worldwide, the mania for consumer goods has created a deadly culture of overwork. A recent UN report stated that work kills two million people per year: that’s an amount equivalent to two September 11 disasters every day. Yet I see no “War on Work” being declared by governments around the world. In fact, the story went widely unreported, schreibt Tom Hodgkinson in seinem Bestseller
„How to be Idle.“
Schlafmangel, Vergesslichkeit im digitalen Rauschen und Hyperinklusion
Wer regelmäßig mehr als 1o 0der 11 Stunden täglich arbeitet, leidet in der Regel unter Schlafmangel. Und das hat, wir wir inzwischen wissen, katastrophale Auswirkungren auf unsere Gesundheit und unseren Verstand. Während wir schlafen, repapieren und adjustieren sich Körper und Gehirn und führen lebensnotwendige Instandhaltungsarbeiten durch.
Ohne Schlaf können Nervenzellen sich nicht optimal verknüpfen, Neurotransmitter arbeiten nicht richtig. Das macht uns nicht nur traurig und missmutig, sondern auch denkträge, weiß der Neurobiologe und Schlafforscher Albrecht Vorster von der Universität Tübingen.
Erst im Schlaf werden aufgenommene Informationen und Erinnerungen zu sinnvollem Wissen. Übrigens ist das auch das das Geheimnis des Geistesblitzes.
Wer also wenig schläft und ständig „on“ – und darauf auch noch stolz ist, hat beste Chancen, bei Zeiten zu verblöden. E-Mails 30 bis 40 Mal in der Stunde zu checken, hat nachweislich schlimme Folgen für die Intelligenz. Um diesen vermeintlich unproduktiven Schlaf abzuschaffen, sind einschlägig bekannte Zombies dabei, Gehirn-Implantate zu entwicklen, um die Produktivität zu steigern – um noch mehr Firlefanz zu produzieren.
Wir freuen uns jetzt schon auf die Freak Show.
Schöne neue Arbeitswelt. Was sagte noch der ehrwürdige Pastor Andrew Townsend angesichts unbotmäßiger Arbeiter: „Man muss sie hungern lassen.“
Mit Verblödung, dem geistigen Verhungern (mit oder ohne Implantat), funktioniert natürlich die Hyperinklusion in die jeweilige Unternehmens-„Mission“ viel besser. Ökonomische Sektenpolitik nach us-amerikanischem Vorbild predigt Erlösung durch Zugehörigkeit. Man könnte auch sagen: Neutralisierung durch Integration
The degree to which people are expected to sacrifice their entire lives and identities to their jobs is reminiscent of religious cults like Scientology. In order to be a Scientologist you are expected to devote your whole life to the cult – not just show up at church on Sundays. CEOs and startup founders describe their jobs as their children and take pride in subsuming their lives under their careers. You must show that you are completely obsessed with your job.
Tom Hodgkinson
Harald Welzer findet es zu Recht ironisch, dass einer der frühen Erfolge der Arbeiterbewegung war, dass nicht mehr gegen, sondern um Arbeit gekämpft wurde. „Aber auf diesem Weg verwandelte sich der anfangs äußerst brutale Zwang von außen in eine stolz zur Schau getragene Wertschätzung der Arbeit nach innen – und ihre bis heute tiefenwirksame Bindung an Erziehung.“
Individuum oder Verhältnisse?
Die Verlagerung des Drucks von außen nach innen ist ein zutiefst protestantisches Prinzip. So gerät umso leichter aus dem Blick, dass es zuerst einmal dysfunktionale Verhältnisse sind, die so viele Menschen krank und unzufrieden machen. Ronald Purser zeigt in „McMindfulness“, wie Stress pathologisiert und privatisiert wurde. Wer’s nicht schafft, sich leistungsstark mit den Verhältnissen zu arrangieren, ist halt ein Minderleister. Die kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus hindert Individuen mehr und mehr, die realen Kontexte durch den Schleier des angestrebten und erwarteten „Self-Improvement“ und persönliches „Zeitmanagement“ (das wegen all der systemischen Maschinenlogik gar nicht funktionieren kann) zu sehen. Bei Google hieß der Inhouse-Guru für „Achtsamkeit“ offiziell „Jolly Good Fellow“ und predigte munter: „Search inside yourself“.
Arbeitszeit und Produktivität oder: Kreativität ist ausgeschlafen
Tatsächlich führen Reduktionen von Arbeitsstunden in vielen Fällen zu Effizienzsteigerungen, weil Menschen einfach wieder mehr als Menschen leben können. In anderen Fällen schadete sie schlicht nichts.
Aber: Je länger wir arbeiten, umso mehr Möglichkeiten gibt es, uns in Zeiten des „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff) auf den digitalen Fersen zu bleiben.
Ironischerweise sind es die Digital-und KI-Propheten, die früher das gelobte Land der Arbeitszeitverkürzung als Legitimation ihrer Herrschaft ins Feld führten (einige Naivlinge in Politik und Wissenschaft argumentieren immer noch damit), die heute gern dabei behilflich sind, uns flächendeckend zu überwachen. Neuerdings finden sie Gefallen an 60- oder gar 80-Stunden-Wochen (was, wie wir sahen, einfach nur Unsinn ist) und gerieren sich als Helden in totaler Aufopferung an die Sache, das heißt, den Job.
Es reicht ihnen also nicht, sich selbst auf dem Altar der „pathetischen Unmenschlichkeit“ zu opfern. Sie schuften sich in die unausweichliche Verblödung, verwüsten Kultur und Zivilisation mit Kaffee in der Pappe auf dem Weg zur Galeere, wo sie selbstredend auch keine Zeit haben, Dinge in Ruhe mit anderen zu durchdenken.
Probleme werden so eher selten wirklich gelöst.
Kreativität ist eine typische Eigenschaft ausgeglichener Menschen. Nicht derjenigen, die sich überreizt und unausgeschlafen alle 11 Minuten von digitalem Firlefanz bei der Arbeit unterbrechen lassen, wie eine Studie unter den Arbeitshelden im Silicon Valley ergab.
Die allermeisten Menschen, die in ihren Berufen Spitzenleistungen vollbringen, arbeiten „low-tech“. Keine elektronischen Tabellen, keine „Sheets“, „Palm Pilots“ etc. Sie machen sich Notizen. Auf Papier. Mit der Hand. Wie Leonardo da Vinci.
Paul Lafargues Rezept für Produktionssteigerung
Und da sind wir. Schlafen Sie ordentlich, essen Sie in Ruhe und – schreiben Sie. Es gibt nichts Besseres für Ihren Kopf und kaum etwas, was mehr Abenteuer und Inspiration bereithält – wenn man sich einmal darauf eingelassen hat
(Natürlich sind die Zombies längst dabei, Texte von Maschinen schreiben zu lassen. Aber sie bauen ja auch Sexroboter.)
Übrigens:
Schreiberlinge hatten immer Einfluss auf öffentliche Meinung und Gesetzgebung. Vorausgesetzt, sie können sich artikulieren und kommandieren genug Ausdrucksstärke im zivilgesellschaftlichen Engagement.
Charles Dickens war einer dieser einflussreichen Schreiber. Und Paul Lafargue kommt langsam wieder in Mode.
In Japan hat Microsoft mit großem Erfolg die Viertage-Woche eingeführt. Die Produktivität stieg um 39,9 Prozent. Die Londoner Börse reduzierte die Arbeitszeit, damit die Beschäftigten wieder gesünder werden. In einer neusseländischen Firma arbeiten Beschäftigte 30 statt 37,5 Stunden. Die begleitenden Wissenschaftler kamen zu einem nun nicht mehr überraschenden Ergebnis: Das Stresslevel sank, die Produktivität stieg – um 20 Prozent.
Weniger zu arbeiten und weniger zu konsumieren gilt inzwischen als ein probates und leicht zu realisierendes Mittel, den Planeten zu retten. Die Nebenwirkungen: weniger Depressionen, weniger Herzinfarkte, weniger Suchtkrankheiten, weniger tödliche Verkehrsunfälle.
Gegen den weltweiten Trend arbeiten die deutschen Autobauer (nicht nur in ihrer Absicht, noch mörderischere Dreckschleudern zu bauen). Mit Unterstützung des Betriebsrates kämpfen die Beschäftgten von BMW darum, statt 35 wieder 40 Stunden die Woche arbeiten zu dürfen …
„Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse …“
Literatur
Paul Lafargue
Das Recht auf Faulheit (Le Droit à la paresse), Paris 1883. Deutsch von Eduard Bernstein. Köln, 2015
Tom Hodgkinson
How to be Idle. A Loafer’s Manifesto, London 2004
Harald Welzer
Alles könnte anders sein. Frankfurt 2019
Ronald Purser
McMindfulness. London 2019