Schreiben auf Reisen

Werkzeuge und Handwerk für die horizonterweiternde Beschreibung der Welt – in der Ferne, in der Nähe, in der Fantasie

In die Ferne schweifen oder das Schöne und Rettende im Vertrauten entdecken oder eine ganze Welt erfinden – Reisen und Schreiben gehören seit jeher zusammen. Als freundliche Schwestern vermögen sie magische Momente zu schenken, ungeahnte kreative Kräfte zu wecken und wie nichts anderes den oft erlösenden Perspektivwechsel zu befördern. Sie helfen, aus Seh- und Denkgewohnheiten herauszutreten und sich einzulassen auf Unbekanntes, ohne zu vergleichen und ohne zu urteilen.
Das Schreiben auf Reisen ordnet Gedanken und Eindrücke und hilft, die neuen Eindrücke zu verarbeiten. Es verankert die Bilder grandioser Orte, bezaubernder Momente und besonderer Menschen tief im Gedächtnis. So ist es mit allen Bildern, die man schreibend selbst produziert hat – anstatt sie nur zu konsumieren.

Das Schreiben auf Reisen und über die Reise ist eine Schule des Sehens. Es belebt das Denken und befreit das Gemüt. Es lehrt die Wahrnehmung zu konzentrieren und im großen Ganzen jeweils den passenden Ausschnitt zu wählen – den, der sich so schreiben lässt, dass das Publikum folgen kann. Oder wo wollen Sie anfangen und aufhören, Rom zu beschreiben?
Schreiben am lebenden Bild umfasst Dinge, Orte, Figuren und Szenen. Sie sind der Rohstoff aller Texte. Der Kamerablick will geübt sein. Welche Erzähltechniken und thematischen Konturen passen zum Stoff? Textsorten wie Reportage, Essay, Feature und Portät sind gute Begleiter auf der Reise ins Buch – auf Reisen, über die Reise …

Fürs erste Einschreiben muss es nicht gleich die Welt sein. Wenn Sie noch überlegen, wie Sie zuhause „auf Reisen“ schreiben sollen, beherzigen Sie einen Rat von Walter Benjamin.

„Betrachtet die vertraute Umgebung so, als wäret Ihr gerade einem Boot aus Singapur entstiegen und hättet Eure Fußmatte und die Nachbarn noch nie zuvor gesehen.“

Gehen Sie los und lassen Sie das Telefon zu Hause. Fotografieren Sie mit dem Stift auf dem Papier.

Praxis

Bettina Baltschev schrieb eine Kulturgeschichte des Strandes, eines Ortes zwischen den Elementen, der uns anzieht wie kaum ein zweiter. Baltschev, Meer- und Kulturmensch, Strandgängerin und Literaturprofi rät allen, die ein Buch wagen wollen, über etwas zu schreiben, was man mit Leidenschaft verfolgen kann. So hält man die Verzweiflungsmomente auf der Langstrecke durch. Das Publikum ist umso mehr gewogen, je mehr es Begeisterung spürt. Baltschevs Buch über acht europäische Strände ist geografisch und chronologisch geordnet, eine Struktur, die sich durch die Logik der Sache selbst ergab. Doch willkürlich war die Auswahl nicht. Es sollten Strände sein, die etwas zu erzählen hatten. Und so leiht Bettina Baltschev ihnen ihr Stimme. Sie erzählt Geschichte und Geschichten, tut das, was alle gute Sachbuchautoren tun, indem sie das Einzelne immer ins große Ganze setzt, Anekdote mit Hintergrund verbindet und so am Ende ihrer Reise viel mehr beschrieben hat, als „nur“ den Zauber acht europäischer Strände.

Der polnische Journalist und Reiseschriftsteller Ryszard Kapuściński reiste mit Notizbuch. Darin finden sich Ortsbeschreibungen, oft gegen den Strich gebürstet und Gedanken allgemeiner Art, manchmal beides ineinander gewoben. Er besucht europäische Städte, sieht den Kölner Dom in einem ganz bestimmten Licht. Menschen im Londoner Kensington Park beschreibt er auf eine Weise, wie sie sich wohl selbst nicht sähen. Das Lesepublikum aber sieht sie sofort. Er selbst nennt die Notizen in seinem Lapidarium Stücke und Fragmente. Es sind Beobachtungen und schiere Beschreibungen, Gedankengänge und Reflexionen, die den beobachteten Ort in einen bestimmten Kontext setzen und die viel Selbstverständliches gegen den Strich bürsten.
Bruchstückhaft, wie die Notizen sind, könnten sie, meint der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, durchaus das Zeug zu einem Ganzen haben.

Mehr Leseempfehlungen

Bruce Chatwin, In Patagonia, London 1977
Stanislaw Lem, Sterntagebücher, Frankfurt a.M. 1973
Albert Camus, Reisetagebücher, Reinbek 1987
Egon Erwin Kisch, Entdeckungen in Mexiko, Mexiko Stadt 1945

Die Bücher

Bettina Baltschev: „Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand“, Berenberg, Berlin 2021

Ryszard Kapuściński
Lapidarium, Frankfurt a.M. 1996

Auch sehr lesenswert: 
Ryszard Kapuściński, Meine Reisen mit Herodot, Berlin 2013

Tipp:
Hanns-Josef Ortheil
Schreiben auf Reisen, Mannheim 2012