Lebensdienliches Wissen

... und sein Gegenteil

Self-Improvement, Feel-good, Molekularernährung – Ratgeber zu einem irgendwie besseren Leben drängen sich gegenseitig von den Regalen. Die Wellness-Industrie macht Milliarden, Coaches, die sonstwas versprechen auf dem Weg zur „inneren Mitte“ machen gute Geschäfte, und die Effizienz-Apostel erklären uns, wie wir in 30 Tagen Millionär werden können. Das ganze Leben wird zum Projekt, sein Kern gerät dabei unweigerlich aus den Augen.
Ein Großtrend der letzten Jahre ist bei alledem eine „Haltung“ namens „Achtsamkeit“. Alles wird gut, wenn ich nur achtsam arbeite, atme, esse, tanke … Unternehmen engagieren Coaches für Achtsamkeit als Allheilmittel gegen Stress, ja sogar beim Militär kann man neuerdings achtsam Kanonen abfeuern und Bomben werfen. Achtsame Arbeitnehmer halten dem Dauerdruck der Hochleistungsgesellschaft besser Stand, achtsame Geschosse …

Ronald Purser erklärt uns, was dahintersteckt, wenn eine buddhistische Lehre ohne ihren ethischen Gehalt eine exzellent vermarktete Pseudoreligion im Dienste der Reichen und Mächtigen wird. Sie soll aktiv und absichtsvoll sozialen und politischen Wandel verhindern und dient als Mittel für soziale Kontrolle und Ruhigstellung. Anstatt von Stress und Leiden zu befreien, fördert „Achtsamkeit“ sie geradezu, weiß Purser, weil die Ursachen für Unwohlsein, Schmerz, Depression ins Innere des Individuums verlagert werden. Nur wir allein sind schuld an underer Misere, nicht etwa die äußeren Bedingungen, die miesen Arbeitsbedingungen, die Willkür und oft genug Sadismus unreifer „Führungspersönlichkeiten“, die man machen lässt.
Nicht die Ursachen für den Stress werden nicht infrage gestellt, sondern das Anpassungsvermögen des Individuums. Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen werden zu überwindbaren Charakterzügen reduziert, die man sich abtrainieren kann. „Emotionale Intelligenz“ soll den Laden am Laufen halten. Die oft absurden Anforderungen des Arbeitsmarktes spielen keine Rolle. Bevor sich also jemand auf die Suche nach lebensdienlichem Wissen über größeres Wohlbefinden macht, oder wenn die „Führungspersönlichkeiten“ einen Achtsamkeits-Coach auf Sie loslassen wollen, lohnt ein Blick in Pursers Buch.

Was ich außerdem für ungemein lebensdienliches Wissen halte, ist ein Buch der Neurowissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Es beschäftigt sich ebenfalls mit Dingen, von denen wir täglich umgeben sind, zum Beispiel mitr sprachlichem Framing, wenn es zum Beispiel darum geht, „Nachrichten“ zu präsentieren. Wenn bestimmte Dinge oder Begriffe in ein und demselben Zusammenhang genannt werden, verarbeitet unser Gehirn sie simultan. Nehmen wir mehrere Dinge zeitgleich wahr, festigt sich die neuronale Vernetzung der entsprechenden Neuronen-Gruppen untereinander. Das gilt auf der allgemeinen Wahrnehmungsebene – wenn sich zum Beipiel bestimmte Gerüche oder Geräusche mit einem bestimmten Gefühl oder einem Erlebnis verbinden. Das gilt genau so für Wörter und Begriffe, die in den immer selben Kombinationen auftauchen und die sich im Kopf miteinander verschalten. „Und je häufiger wir dieselben Dinge zeitgleich wahrnehmen, desto stärker entwickelt sich ein – irgendwann dann automatischer und leicht aktivierbarer – Schaltkreis im Gehirn.“

Diese Frames, so Wehling, sind die Grundlage für unsere Entscheidungen und nicht etwa, wie wir allzu gern glauben, bloße „objektive“ Fakten. „Je öfter wir Worte oder Sätze hören, die bestimmte Ideen miteinander assoziieren, desto selbstverständlicher wird diese Assoziation Teil unseres alltäglichen Denkens und formt langfristig unsere Wahrnehmung.“
Wer nun glaubt, speziell politisches Framing beeinflusse nur diejenigen unter uns, die wenig über Politik wissen, der irrt. Tatsächlich sind Menschen mit umfassenden politischen Kenntnissen anfälliger als andere, weiß Elisabeth Wehling. „Ist das Gehirn gewohnt, regelmäßig politische Fakten und Sachverhalte interpretierend einzuordnen und dabei je nach Informationsquelle und Zusammenhang unterschiedliche Frames zu nutzen, geht es ihm entsprechend einfacher von der Hand, wahlweise im einen oder anderen Frame zu denken; sie sind ihm gleichermaßen – im wahrsten Sinne des Wortes – selbstverständlich.“ Aber haben wir das nicht immer schon gewusst? Auf jeden Fall lohnt es sich, solche Dinge zu wissen, finde ich, damit wir uns nicht von finsteren Gesellen mit womöglich unehrenhaften Absichten hinter die Fichte führen lassen.

Die Bücher


Ronald E. Purser

Wie Achtsamkeit die neue Spiritualität des Kapitalismus wurde
Frankfurt 2021
Der in der Übersetzung aus mir unverständlichen Gründen aufgegebene Originaltitel lautet „McMindfulness“

Elisabeth Wehling
Politisches Framing: Wie sich eine Nation ihr Denken einredet und daraus Politik macht, Berlin 2016

Mehr Leseempfehlungen

Susanne Weiss
Das Wort im Kopf. Die unterschätzte Macht der Sprache
Berlin 2020

In diesem Buch geht es darum, wie Sprache funktioniert und wie sie wirkt.
Folgen Sie gemeinsam mit mir den Wörtern in den Kopf und sehen Sie nach, was sie da treiben.
Willkommen zu einer kurzweiligen und aufschlussreichen Einführung in die Welt der Sprache.
Willkommen zu Metaphern und Manipulationen, zu Kulturen und Kontexten – zu hoffentlich nützlichem Wissen für Sie – und willkommen zu einem Plädoyer für Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber einer unserer wichtigsten Kulturtechniken.

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