Die Literatur inspiriert das Gehen, das dann selbst wieder zur Literatur wird. Für Jörg Jacob war die Verbindung von Gehen und Schreiben eine Art spiralförmige Entwicklung. Im Booktalk erzählt er, warum er beim Gehen nicht fotografiert, wie man Augenzeugenschaft und Fiktion miteinander versöhnt und wie man sich mit Hilfe erlernten Handwerks der Anfechtungen des romantischen Geniekults und seiner Talentmythen erwehrt.

Schreiben in Bewegung

Jörg Jacob und die Poetik des Gehens

„Ich bin diesen Weg aus der Stadt in den Wald, auf eine Anhöhe und wieder hinunter zum Fluss schon so oft gegangen, dass ich ihn jederzeit vor meinem inneren Auge ablaufen kann. Und es scheint mir, als ob ich den Weg, während ich ihn erinnere, überhaupt erst erschaffe.“
Jörg Jacob.
Aus der Stadt und über den Fluss. Zwölf Versuche über das Gehen

Schreiben und Reisen sind seit jeher freundliche Schwestern. Sie ermutigen einander, folgen Rhythmen, derer wir uns kaum bewusst sind, und umso mehr, wenn es um eine ganz bestimmte Art des Reisens geht. Wer geht, um zu schreiben, braucht den Blick auf alle Distanzen. „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt“, schrieb Johann Gottfried Seume, der berühmteste Spaziergänger deutscher Sprache. Wer geht, um zu schreiben, fotografiert nicht, sondern sieht hin. Der unverstellte Kamerablick würdigt das Detail, verharrt in mittlerer Distanz, sieht das große Ganze in Raum und in Zeit und kehrt von dort zurück zum Detail. Wie in einem guten Text.

„Für mich war die Verbindung von Schreiben und Gehen eine Art spiralförmige Entwicklung“, sagt Jörg Jacob. 2023 gewinnt der Leipziger Schriftsteller den Literaturpreis der Internationalen Seume-Gesellschaft für sein Buch „Aus der Stadt und über den Fluss. Zwölf Versuche über das Gehen.“ Es sind Wanderungen auf literarischen Pfaden. Beobachtungen und Erinnerungen verbinden sich mit philosophischen Reflexionen. Sie führen durch Landschaften, durch Städte und durch die eigene Wohnung. Manche Wege geht Jörg Jacob in Abständen von Jahren immer wieder. Irgendwann formen sie sich zu einem Text. „Das Entscheidende sind die Verknüpfungen“, weiß Jacob. „Sehen, Beobachten, Denken, Empfinden. Lässt man nur eines weg, besteht die Gefahr von Missverständnissen, Verzerrungen und Halbwahrheiten.“

Das Handwerk erlernt der Autor von 1998 bis 2002 in einem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, das er 2003 mit dem Diplom abschließt. Es ist dort, wo er im Gespräch mit anderen eine Gabe entdeckt, die sich auf die eine oder andere Art in allen seinen Texten zeigt: die Fähigkeit, Dinge zu entdecken, die man auf den ersten Blick nicht sieht.

SW    Was hatten Sie denn entdeckt?

Jörg Jacob    Es war eine Kleinigkeit, die sich hinter einem spektakulären Vordergrund zu verstecken schien. Ich war mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann in Leipzig unterwegs, als wir an einer offenen Garage vorbeikamen. Darin stand ein neues, offensichtlich teures Auto westlicher Bauart. Aber an der Rückwand der Garage hing dieses ovale Blechschild, das alte Länderkennzeichen der DDR. Ich fragte mich, was für eine Verfasstheit es wohl sein könnte, die ein solches Auto mit dem Kennzeichen eines Landes verband, das es nicht mehr gab. Solche scheinbar unbedeutenden Details lösen Assoziationen aus und natürlich Erinnerungen. Sie können mitunter zu philosophischen Erwägungen führen, die sich dann auch gern einmal im großen Ganzen bewegen.

Wie findet man diese Details?

Man darf nicht danach suchen. Sie müssen von allein kommen.

Fotografieren Sie, wenn Sie unterwegs sind – und sei es, um Einzelheiten zu erinnern?

Selten. Wenn ich unterwegs bin, finde ich das Fotografieren eher hinderlich. Ich mache mir Notizen und finde so meine eigene Beziehung zum Weg. Sie bilden einen Teil der Erinnerungen, die ich zu Rate ziehe, wenn es soweit ist, einen Text zu schreiben. Mein Notizbuch habe ich also immer dabei, auch wenn die Seiten gelegentlich leer bleiben. Es kann vorkommen, dass ich mich zwingen muss, etwas zu notieren. Es gibt Details, die man leicht vergisst, flüchtige Gedankensplitter, die der Weg oder etwas am Wege auslöst, oder atmosphärische Stimmungen, die schnell vergehen und die sich allen Versuchen entziehen, sie zurückzuholen. Sie herbeizwingen und aufs Papier bannen zu wollen, führt schnell zum Verlust der Authentizität und erzeugt einen deutlichen Missklang. Das Lesepublikum bemerkt so etwas sofort.

Was aber, wenn die Erinnerung sich nicht einstellen will und auch keine Notizen zur Hand sind?

Nun, es sind literarische Texte. Selbstverständlich darf ich etwas erfinden. Solange ich der Natur oder einer Stadt keine Märchenfiguren andichte, und solange die Fiktion im Rahmen der Geschichte konsistent ist, ist sie auch wahr. Wissen wir denn, ob Athanasius Kircher in seiner Autobiografie bei der Wahrheit blieb, als er von seiner aufregenden Wanderung durch den Spessart erzählte? Ich selbst bin mehr als einmal durch den Spessart, den Spechtwald, gewandert. Wenn man schließlich nach Jahren alle gegangenen Wege in einem Text vereint, vermischen sich notwendig „Fakten“ mit Fiktionen, und die realen Spaziergänge verschwimmen mit der literarischen Bearbeitung

Es ist vollkommen still, dann, ganz nah bei mir muss der Specht noch immer sein, ein hohles Pochen. Das wiederkehrende Geräusch, das der Spechtschnabel produziert, dreimal kurz und schnell, dann ein einzelner Schlag, wieder drei, einige Sekunden Pause, dann plötzlich auf fünf Schläge erhöht. Wie der Körper einer Trommel verstärkt eine Höhlung im Baum den Schall und auch in meinem Kopf hallen die Schläge nach. Das Klopfen, eine unerbittliche Mahnung. Ein Haiku, vielleicht ein Basho, kommt mir in den Sinn. Ja, ja, schrie ich. Doch das Klopfen am verschneiten Tor hörte nicht auf.

Zwölf Versuche. Waldgang, S. 77

Und dann geschieht womöglich so etwas wie bei Ihrer Wanderung auf den Mont Ventoux, den windigen Berg. Der Proviant ist verbraucht, der Weg ist verloren und – ich zitiere: „ … insgeheim denke ich, solche Dinge geschehen, wenn man einem Dichter glaubt. Ich wüte gegen Petrarca …“

Als wir den Mont Ventoux bestiegen, folgten wir dem Beispiel Petrarcas und seinem Text über das Gehen. Doch je weiter wir gingen, umso unwahrscheinlicher erschien es uns, dass Petrarca tatsächlich den Gipfel erklommen haben konnte, zumal es vor 600 Jahren keine bearbeiteten und gekennzeichneten Wege gab. Hatte Petrarca gelogen? Oder erzählte er aus zweiter Hand? Wie immer dem sei, ändert es nichts daran, dass er in seinem Text über seine legendäre Bergbesteigung einen neuen Ton in die Beschreibung der Natur brachte, weg von der bisher symbolischen Landschaftserfahrung des Mittelalters hin zu Beschreibungen realer Natur. Für Kulturhistoriker markiert der 26. April 1336, der Tag, an dem Petrarca auf dem Mont Ventoux stand, den Scheidepunkt von Mittelalter und Renaissance.

 

In meiner Erinnerung werden sich diese Stunden des Aufstiegs wie eine lange Reise ausnehmen, wird die Rast im Schatten der Eichbäume, die vom Wind davongewehte Wanderkarte, das spröde Knirschen des Kalksteingebrösels unter den Schuhen und der allererste Fernblick, der sich bot, hervor zwischen dichtem Strauchwerk und Bergkiefern. als Gesamtkomposition abrufbar verbleiben, deren Partitur den Titel Mont Ventoux trägt.

Zwölf Versuche. Mit Petrarca, S. 43

Ihre ersten Texte waren Miniaturen, geschriebene Bilder oder Kürzestgeschichten. Was viele nicht wissen: Die kurze Form schreibt sich nicht schnell „mal eben“ in ein paar Momenten. Sie ist im Gegenteil besonders anspruchsvoll. Denken wir an Kleist und seinen berühmt gewordenen Satz im Brief an einen Freund: „Ich hatte keine Zeit, einen kurzen Brief zu schreiben.“

Es waren Peter Altenbergs Texte, in denen mir die kurze Form zuerst begegnete. Sie ist überaus reizvoll, aber in der Tat auch sehr schwierig. Man muss sich dem Kern dessen, was man sagen will, in sehr vielen Überarbeitungen langsam und stetig immer weiter annähern und die Texte häufig umschreiben. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte – oder sollte – Texte schreiben, die auf Anhieb sitzen.

Aber irgendwie muss ich anfangen. Wie beginnt man mit dem Schreiben? Gibt es etwas wie eine Initialzündung?

Zunächst einmal ist es wichtig, sich vom Geniekult der Romantik zu verabschieden, der viel zur sprichwörtlichen Angst vor dem weißen Blatt beigetragen hat. Das Handwerk des Schreibens kennt nicht nur Instrumente, wie man Hürden überwinden kann, sondern auch Mittel und Wege, wie man Gedanken und Material ordnet und wie man sich ausgehend von einem bloßen Stichwort zu einem Text hinbewegen kann. Es lehrt auch, dass sie erste Fassung nur die erste Fassung ist, der viele weitere folgen dürfen.

Sie haben die Textwerkstatt „Die erzählte Welt“ ins Leben gerufen. Wie lernen die Lern- und Erzählwilligen bei Ihnen das Schreiben?

Es beginnt damit, nach einem gegebenen Stichwort ohne jegliche Zensur erst einmal drauflos zu schreiben. Dann geht es nach und nach an die Grundlagen des Handwerks und die eigentliche Textarbeit. Stimmen Wortwahl und Satzbau? Gibt es einen klingenden Wechsel zwischen langen und kurzen Sätzen? Soll ich alle Adjektive streichen oder anders einsetzen? Ist die Sprache bildhaft, das heißt, kann man das Geschriebene sehen? Es hilft übrigens immer, sich den Text laut vorzulesen. Wenn er nicht rund ist und der Rhythmus nicht stimmt, bekommt man Probleme mit der Atmung.
Und schließlich sollte man eine Sache nicht vergessen: So wichtig es ist, die eigene Stimme zu finden, im Schreiben eigene Wege zu gehen und den Versuch zu starten, experimentelle Verfahren auszuprobieren: Im Handwerk gibt es Regeln. Brechen kann ich sie, wenn ich sie beherrsche.

Gibt es einen typischen Anfängerfehler?

Wer noch wenig Erfahrung im Schreiben hat, neigt dazu, alles auszuwalzen und auszuerklären. So etwas führt schnell zu Langeweile und Überdruss. Das Lesepublikum fühlt sich unterschätzt. Es möchte nicht belehrt werden, vielmehr ist es durchaus bereit, sich beim Lesen ein wenig anzustrengen, einen Text gedanklich zu durchdringen und sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Jörg Jacobs Texte über das Gehen verbinden Augenzeugenschaft und Literatur miteinander. Es sind Texte im Dazwischen, wo sich auch ihr Autor am wohlsten fühlt. „Man hat ja gelegentlich den Wunsch, Partei zu ergreifen“, erzählt er, „aber die Position des Dagegen bindet mich untrennbar an das, was ich bekämpfen will.“ Im Dazwischen ist der Horizont weiter und der Blick zugleich konzentrierter. So kann man auch den Reiz einer Stadt erkennen, die die meisten Reisenden links liegen lassen: „Triest in eine unaufgeregte Stadt mit wenigen Touristen, eine Stadt zwischen den Stühlen …“

Tergeste auf der Tabula Peutingeriana – Die Stadt zwischen den Stühlen

Vom dreiköpfigen Triglav, dem Alpengipfel, der den Slowenen heilig ist, will ich hinunter ans Meer und zum Triester Dreigestirn der Literatur: Umberto Saba, Italo Svevo, Claudio Magris. Und was ist mit Joyce, was mit Rilke? Oder Scipio Slataper – schon vergessen? Nach Triest, in die Stadt der Dichter, bin ich unterwegs, und in Triest, so glaube ich, so will ich es glauben, könnte auch ich bleiben für lange Zeit. Denn dort, zwischen Berg und Meer, im Dazwischen, im Nicht-mehr und Noch-nicht, bin ich daheim.

Zwölf Versuche. Am Rand, S. 93

Es ist schwer, sich Jörg Jacobs zeitlosen Texten zu entziehen, hat man einmal begonnen, sie zu lesen und ihren Rhythmus aufgenommen. Sie wirken wie ein Spaziergang, der einen weiterführt, als man ursprünglich gehen wollte. Es ist auch dieser Rhythmus, der es möglich macht, viele der schönen langen Sätze im Buch – anders umbrochen – zu lesen wie Gedichte.
Vor allem aber leisten die freundlichen Schwestern Schreiben und Reisen in den „Zwölf Versuchen“ ganze Arbeit dabei, uns zu zeigen, wie innig sie zusammengehören. Oder wie Jörg Jacob es ausdrückt: „Ich wollte eine Poetik des Gehens schaffen.“

Jörg Jacob
Aus der Stadt und über den Fluss. Zwölf Versuche über das Gehen.
Ausgezeichnet mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis 2023

Gehen. Zwölf Wanderungen auf literarischen Pfaden. Auf den Mont Ventoux, über Inseln, durch Wald und Städte – mit Petrarca, Franz Kafka, Joseph Roth, Samuel Beckett, dem Labyrinth des Minotaurus, einer Stadt zwischen den Stühlen und der Wohnung des Erzählers.

Leipzig 2022
Connewitzer Verlagsbuchhandlung – Reihe Edition Wörtersee
www.cvb-leipzig.de

Jörg Jacob
Klick! 99 Miniaturen

Mit fotografischem Blick fixiert Jörg Jacob Momente, spektakulär-unspektakuläre Augenblicke voll Geist und Witz, voller Überraschungen und Melancholie. Poetisch und kunstvoll erzählen die Kürzestgeschichten viel von denjenigen Dingen des Lebens, die wir viel zu leicht übersehen.
Leipzig 2014
Connewitzer Verlagsbuchhandlung – Reihe Edition Wörtersee
www.cvb-leipzig.de

Jörg Jacob
Eng beschriebene Postkarten. Unterwegs an den Rändern Europas.

Zwei Reiseberichte besonderer Art. Sie führen durch einen abgelegenen Teil des Peloponnes und durch ein halb-imaginäres, verschollenes Sarmatien. Jörg Jacob ist auf der Suche nach Geschichten von Menschen, fragt, wie sie sich erleben und wie sie sich die Zukunft vorstellen. Zeitreisen führen ihn in die griechische Mythologie, der Blick in die Literatur anderer Reisender zu Patrick Leigh Fermor oder Bruce Chatwin.

Mit einem Nachwort von Elmar Schenkel
Leipzig 2023
Edition Hamouda