Der Historiker Andreas Bähr ist Professor für Europäische Kulturgeschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)
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Das Erzählen hat ganz sicher einen Platz in der Wissenschaft, ist Andreas Bähr überzeugt. Die Missverständnisse über erzählende Formen, die häufig noch verdächtigt werden, sich fahrlässig der Erfindung anzunähern, sind mitunter schwer aus der Welt zu schaffen. Im Booktalk erklärt Andreas Bähr, warum es eine Illusion ist zu glauben, man käme beim Schreiben von Biografien ohne dieses ehrbare Handwerk aus – und warum die Chronologie nicht immer das erste Mittel der Wahl ist.

Weltenleser

Andreas Bähr und die Biografie in Lebens-Geschichten

Athanasius Kircher war Universalgelehrter, legendäres wissenschaftliches Orakel, eine Schlüsselfigur der Wissenschaftsgeschichte, Besitzer enzyklopädischen Wissens, Erbauer sprechender Statuen, Erfinder von Abhöranlagen und Verschlüsselungstechniken, Musik komponierender Maschinen und einer Sonnenblumenuhr. In Rom errichtete der Jesuitenpater das erste öffentlich zugängliche Kuriositätenkabinett. Er beschäftigte sich mit magischen Laternen und Mischwesen, erforschte Drachen, Magnetismus und Hieroglyphen, widmete sich den Sternen am Himmel und den Abgründen unterirdischer Gefilde. Er tat all dies, um die Welt und das Wirken seines Herrgotts darin zu entziffern.
Sein unverbrüchlicher Glaube rettete ihn aus Seenot, schwierige theologische Probleme besprach er mit der Jungfrau Maria, Auswege aus verzwickten logischen oder ethischen Zwickmühlen fand er immer, das hatte er als Jesuit gelernt, auch wie man in der Fastenzeit frei von Sünde Schokolade zu sich nimmt.

Athanasius Kircher
Kupferstich von Cornelis Bloemaert

“Athanasius Kircher hatte es faustdick hinter den Ohren“, freut sich Andreas Bähr, der sich auf das Wagnis eingelassen hat, eine Biografie über ein komplexes Gesamtkunstwerk und seine von Umbrüchen geprägte Zeit zu schreiben.

SW    Ihre Biografie macht keinen Versuch, Kirchers kreatives, bisweilen fast schalkhaftes Denken unter dem melancholischen Gelehrten und dem frommen Mann Gottes zu verbergen. Man darf bei der Lektüre schmunzeln, sogar lachen. Steckt Absicht dahinter?

Andreas Bähr    Kircher fand immer einen Weg, religionstheoretische Engpässe zu umgehen oder auch persönliche Erlebnisse so zu interpretieren, dass sein Weltbild auch im Zuge großer Anfechtungen konsistent blieb. Dass er es faustdick hinter den Ohren hat, gehört ebenso zu seinem Denken und Wirken wie seine enzyklopädische Gelehrsamkeit. Insofern habe ich die Ironie tatsächlich bewusst als Stilmittel* eingesetzt und in den Quellen nach Szenen gesucht, die genau das ermöglichen, ohne jedoch meinen Gegenstand zu beleidigen. Kircher ist nicht mein Held, aber ich überhebe mich nicht über ihn. Die Ironie trifft den Schalk in Kircher, nicht den Gelehrten.

Sie stellen Kircher im Prolog kurz vor, um ihn anschließend in „Lebens-Geschichten“ zu zeigen. „Schokolade“ ist eine davon, andere heißen „Schiffbruch“, „Wunderkinder“ oder „Rattenfänger“. Querverweise verbinden die Kapitel miteinander, manchmal auf geradem Weg, manchmal mäandrierend durch Kirchers Leben und durch seine Zeit. Warum nicht eine einfache, übersichtliche Chronologie?

Eine chronologische Darstellung von Kirchers Leben würde eine ganze Reihe von Konzepten voraussetzen, die es zu seiner Zeit gar nicht gab. Man kannte kein mit sich selbst identisches und in sich geschlossenes Ich oder die Autonomie des Subjekts. Wenn ich Kircher und seinem Denken gerecht werden will, muss ich es vermeiden, Selbstkonzepte, wie sie im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, auf das 17. Jahrhundert anzuwenden.
In seinem Versuch, die Welt zu entziffern, entwickelte Kircher eine ganz spezielle Kombinatorik, um alles mit allem verbinden zu können. Die Querverweise zwischen den Lebens-Geschichten sind auf diese Kombinatorik abgestimmt. Das heißt, ich historisiere meinen Protagonisten auch über die Form der Darstellung. Die Form der Biografie ist ein Teil ihres Inhalts.
Eine lineare Chronologie würde weder Kircher und seinen Wissens- und Erzählformen noch seiner Zeit gerecht. In frühneuzeitlichem Denken fasste man ‚Geschichte’ nicht als unilinearen Prozess auf, sondern als historia, als Bild und Erzählung.

Mit einer Erzählung beginnt Ihr Buch. Man könnte die Geschichte über die Reaktionen auf einen Ausbruch des Vesuvs im Jahre 1660 und die schwarzen Aschekreuze, die er spie, als klassische Reportage ansehen. Szenischer Einstieg, Spannungsaufbau, komponierte Dramaturgie, Ausblick. Ehe man sich’s versieht, ist man mitten drin in der Geschichte. Darf man als Wissenschaftler erzählen?

Das Faktische im Fiktiven. Athanasius Kirchers sprechende Statuen.
Musurgia Universalis 1650

Das Erzählen hat ganz sicher einen Platz in der Wissenschaft. Über das Fiktive im Faktischen wurde und wird in der Wissenschaft viel diskutiert.* Dabei existieren immer noch Missverständnisse über erzählende Formen, die verdächtigt werden, sich fahrlässig der Erfindung anzunähern. Im geschichtswissenschaftlichen Schreiben, aber auch in anderen Disziplinen ist es eine Illusion zu glauben, man käme bei der Darstellung historischer Sachverhalte, auch und vor allem in Biografien, ohne Erzählen aus.
Die Geschichte von den Aschekreuzen, die auf den Süden Italiens niedergehen, habe ich als szenischen Einstieg gewählt, weil sie direkt zu der dann eher faktizierenden Skizze hinführt, in der ich Kircher und seine Art zu denken kurz vorstelle. Er wird dann derjenige sein, der als Theologe und als Naturphilosoph erklärt, wie das Ereignis einzuordnen ist.

Die für Kircher typischen Lebens-Geschichten haben eine bestimmte Reihenfolge und Verbindung untereinander. Wie kam die Ordnung des Stoffs zustande, wie sie im Buche steht?

Die Entscheidung gegen die Chronologie war eine der Grundlagen für die Ordnung des Stoffs. So konnte ich Kircher besser in dem Netz faszinierender Denksysteme zeigen, in dem er sich bewegte. Dabei habe ich einigermaßen kuriose Themen ausgesucht, weil man aus ihnen – auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag – am meisten entwickeln und Zusammenhänge am anschaulichsten zeigen kann.
Die Abschnitte oder Kapitel der Biografie sind nicht alle in der Reihenfolge entstanden, in der sie im Buch angeordnet sind. Zuweilen bin ich Fortuna, der Göttin des Glücks, des Schicksals und des Zufalls, gefolgt: Sollte ich einen Vortrag zur Geschichte der Traumdeutung halten, habe ich dafür eben Kirchers Traum-Erzählungen gewählt und bin von dort aus dann weitergegangen. Auf diese Weise ergab sich vieles beim Schreiben selbst. Plötzlich entstanden Erkenntnisse und Aha-Effekte, die neue Nuancen der Darstellung nahelegten, kleine Richtungsänderungen auslösten und es ermöglichten, neue Fäden zu spinnen.

Wie lange dauert es, eine enzyklopädische Biografie über ein Gesamtkunstwerk wie Kircher zu konzipieren?

Solche Vorhaben entwickeln sich über viele Jahre. Die Idee zu dieser Biografie hat sich über 10 Jahre aufgebaut. Kircher lief mir bereits in einem früheren Forschungsprojekt über den Weg und taucht in einigen meiner Bücher auf, weil er zu vielen Themen Anknüpfungspunkte bietet. ** Natürlich gibt es auch Zufälle, die Hinweise in sich bergen. Manches fliegt einem zu. Dann arbeitet man weiter, verfolgt Spuren. Manche von ihnen verlieren sich, andere führen irgendwann zum Anfang zurück. Dann kann man das Buch endlich zumachen …

Sie plädieren dafür, das erzählende Schreiben solle einen Platz in der Wissenschaft haben. Als erzählendes Genre ist die Biografie im deutschsprachigen Raum noch nicht wirklich populär. Lange Zeit hieß es sogar, Biografien zu schreiben, sei wissenschaftlicher Selbstmord.

Glücklicherweise hat sich das in letzter Zeit bereits ein Stückweit geändert. Die Kircher-Biografie ist bisher auch in der Wissenschaft freundlich rezipiert worden, und ich hoffe, dass das Buch auch als Ermutigung angenommen wird, die Biografie als Format der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte weiterzuentwickeln. Manchmal lohnt es sich, ein Experiment zu wagen, von dem man nicht genau weiß, wie es ausgeht.

* Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986

Andreas Bährs Biografie als Wissensgeschichte zeigt, dass heutige Unterscheidungen zwischen Magie, Religion und Wissenschaft das Denken zu Kirchers Zeit noch nicht zerteilt hatten. Der gelehrte Jesuitenpater konnte für wissenschaftliche Probleme Lösungen aus allen Sphären des Denkens und des Glaubens vorschlagen.
Die modernen Naturwissenschaften setzen dem ein Ende, und Empiristen wie Francis Bacon sind die neuen Helden der Gelehrsamkeit. Intellektuelle Herausforderungen, wie sie auftreten, wenn es darum geht, so anspruchsvollen Kreaturen wie Drachen einen Platz in der göttlichen Ordnung der natürlichen Welt zuzuweisen, existieren nicht mehr. Die Welt wird nicht mehr gelesen, sondern gemessen und berechnet. Doch noch braucht die neue Aufklärung starke Gegenbilder, um sich ihrer Rationalität zu versichern. Es ist eine hohe Zeit der Hexenverfolgung. In dieser Zeit wissenschaftlichen, religiösen und politischen Umbruchs wird Athanasius Kircher, der hochgeschätzte Universalgelehrte, der Entzifferer der Welt, allmählich zum Scharlatan, den man gar des Betrugs bezichtigt.

„Man versteht die moderne Wissenschaft und das, was sie weiß oder zu wissen glaubt, besser, wenn man sie von außen betrachtet“, sagt Andreas Bähr. Seine Reise in die Welt des 17. Jahrhunderts mit den dicht erzählten, ineinander verwobenen Lebens-Geschichten über das abenteuerliche Leben des Athanasius Kircher macht deutlich, dass alle Erkenntnis stets zeitgebunden ist, eingewoben in die obwaltenden Verhältnisse und in die politische Großwetterlage. Sie einer ‚rationalen’ Prüfung mit heutigen Begriffen unterziehen zu wollen, anstatt sie mit den Wissens- und Erzählformen der jeweiligen Zeit zu veranschaulichen, würde die Tore zu irreführenden Missverständnissen weit öffnen. Es gäbe auch keinen Platz für Drachen. „Geschichten sind Werkzeuge der Erkenntnis“, ist Andreas Bähr überzeugt. „Kircher hat in Geschichten gelebt, also schreibe ich Geschichten.“

 

** Weitere Bücher von Andreas Bähr (Auswahl)

Andreas Bähr
Furcht und Furchtlosigkeit: Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert
(Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung – Band 14)

Göttingen 2013

Andreas Bähr
Untergang und neue Fahrt: Schiffbruch in der Neuzeit

Mit Peter Burschel, Jörg Templer, Burkhardt Wolf

Göttingen 2020