Gut 200 Jahre, nachdem Johann Gottfried Seume einen Bestseller über seine Fußreise von Sachsen nach Silzilien veröffentlichte, folgt Oliver Heilwagen ihm mit dem Fahrrad. Sein Buch nennt er „Spazierfahrt nach Syrakus“.  Es setzt den vielen Klischees über Italien die Kenntnis desjenigen entgegen, der sich Zeit lässt, genau hinzuschauen.
Wie es entstand, erzählt er im Booktalk.
„Am Ende ging es mir darum – vielleicht wie Seume – eine Mischung aus launigen Beobachtungen, kleinen Anekdoten und profunder Analyse zu schaffen. Mit anderen Worten, es sollte ein Text wie ein inhaltsgesättigtes Gespräch werden.“

Ein Buch über eine lange, langsame Reise

Oliver Heilwagens Spazierfahrt nach Syrakus – oder wie man einen Reisebericht auch schreiben kann

Das geschriebene Wort, so ließ man Oliver Heilwagen einmal wissen, sei aus der Mode. Wer habe schon Zeit für eine Online-Publikation, die ausführlich über Kunst und Film berichtet, Rezensionen bietet, Filme kennt, liebt und bespricht, Ausstellungen besucht und das Wesen der Sache erforscht. Nein, dafür sei die Welt nicht mehr eingerichtet. Gefragt seien Klickzahlen auf Tiktok, Momentaufnahmen statt eingehender Betrachtung und Analyse, je kürzer, desto besser.
Mit seiner Seite „Kunst+Film“, auf der man sich schnell festliest, entschied sich Oliver Heilwagen gegen die Fastfood-Philosophie in der Kulturberichterstattung und gegen die Versuchungen der leichten Beliebigkeit in Zeiten zunehmender Zerstreuung – und so hat er auch sein Buch geschrieben über eine lange und sehr langsame Reise.

Eine mit Kletterpflanzen bewachsene Drahtskulptur eines Radfahrers in Grado an der Nordküste der Adria, am äußersten Ende des Golfs von Venedig

Auf Tuchfühlung

Johann Gottfried Seume war schon die Kutsche zu schnell“, erzählt der Reisende auf den Spuren des berühmtesten Spaziergängers deutscher Sprache. 1802 „tornistert“ Seume zu Fuß von Grimma in Sachsen nach Syrakus auf Sizilien und schreibt darüber ein Buch, das schnell zum Bestseller wird. Gut 200 Jahre später folgt ihm Oliver Heilwagen mit dem Fahrrad. Sein Buch nennt er „Spazierfahrt nach Syrakus“. Es erschien 2022 im Knesebeck-Verlag.
Seumes Abenteuer begleiteten Heilwagen seit dem Abitur und sicherten sich einen festen Platz in seinem Hinterkopf. Irgendwann …

„Irgendwann überlegte ich, wie ich meinen 50. Geburtstag am besten zelebrieren könnte“, erinnert sich Heilwagen. Da trat Seume neben ihn und sagte es ihm.

Seume hatte mit seinem „Spaziergang“ einen neuen Horizont in der Reiseliteratur eröffnet. Trotz seines bildungsbürgerlichen Hintergrundes wollte er nicht die übliche „Grand Tour“ der Adelssprösslinge machen, die den antikenseligen Kopf in den Wolken trugen, aber kaum den Grund sahen, auf dem sie standen. Auch Seume bewunderte die Kunst früherer Zeiten über alle Maßen, doch er suchte auch die Nähe zu Land und Leuten, ihrem alltäglichen Leben und ihren oft beengten Verhältnissen unter der Fuchtel der Äbte, des Adels und der Magistrate.
Oliver Heilwagen nahm sich etwas ähnliches vor. Sein Reisebericht würde den vielen Klischees über das geliebte Italien etwas entgegensetzen. Auf seiner Reise würde er einen Kulturraum auf andere Art erschließen und auf Tuchfühlung mit den Menschen gehen, immer bereit, sich überraschen zu lassen. Auf den ausgetretenen Pfaden des konventionellen Tourismus und im heute üblichen Reisetempo konnte das kaum gelingen.

Radfahrer auf der Piazza Libertà in Udine. Sie gilt als schönster „venezianischer“ Platz auf dem Festland

SW – Und dann haben Sie wie Seume am Abend in der Herberge zu Feder und Papier gegriffen und die Etappe des Tages festgehalten und am Ende …

Oliver Heilwagen (lacht): … ist das Buch fertig? Ja, anfangs war ich so optimistisch. Aber nein, so geht es natürlich nicht. Was beim Notieren herauskommt, ist zunächst einmal das blanke Chaos, und ein schieres Tagebuch kann man dem Lesepublikum schließlich nicht zumuten.

Apropos Publikum. Für wen ist das Buch gedacht?

Das Buch ist ein Hybrid. Es ist nicht einfach ein klassischer Reisebericht oder gar ein Handbuch für Fahrradtouristen. Vor allem ist es ein Buch für Menschen mit einem starken Interesse an Italien, aber an einem Italien jenseits der üblichen Unterstellungen und Zuschreibungen. Sagen wir, es ist ein Buch für alle diejenigen, die sich eine neue, eine differenzierte Perspektive auf das Land wünschen.

Blankes Chaos steht am Beginn vieler Buchprojekte. Wie kommt man dem am besten bei? Wie macht man aus dem Tagebuch ein Buch?

Ich glaube, beim Sammeln unterwegs sollte man erst einmal keine Angst vor dem Chaos haben. Man greift ganz unsystematisch hier und da Dinge auf, auch ohne zu wissen, wofür sie noch gut sein könnten. Zum Sammelgut gehörten bei mir auch rund 6000 Fotografien, die sich später als wertvolle Gedächtnisstütze herausstellten, als es an die eigentliche Bucharbeit ging.

Wenn sich dann zuhause am Schreibtisch das noch chaotische Material vor einem auftürmt, drängt sich bald eine schmerzhafte Frage auf: Was kann, nein, was muss ich weglassen? Tue ich das nicht, habe ich kaum eine Chance, sinnvolle Themenblöcke mit Kapitelqualität herauszukristallisieren, die dem Lesepublikum eine nachvollziehbare Struktur bieten.

Die erste Textfassung muss sich ja ähnlichen Torturen unterziehen. Wie erträgt man die Schmerzen des Kürzens von Textpassagen, die mit vielleicht schönen Erinnerungen aufgeladen sind?

Ganz einfach: Man lässt es andere tun. Freunde und Testleser, die mehr Distanz zur Sache haben und denen man vertrauen kann, wenn sie einem sagen: ‘kill your darlings’. Am Ende habe ich ungefähr ein Drittel des ursprünglich gedachten Inhalts hinausgeworfen. Aber als Autor und Journalist weiß ich auch, dass Texte gewinnen, wenn man sie strafft.

Zum Text selbst. Welche Ansprache mag die beste sein für Italienfreunde, die sich eine neue Perspektive auf Land und Leute wünschen?

Wenn ich die Ansprache wähle, muss ich zunächst einmal wissen, was ich kann und was ich nicht kann. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, jemandem wie Goethe und seiner Italienischen Reise nachzueifern oder einen barocken, fabulierenden Stil zu wählen. Das hätte ich weder gekonnt noch gewollt. Es ist wichtig, mit der eigenen Stimme zu sprechen. Meine ist eben auch die des Journalisten, der nah an der Sache berichtet, der aber auch Geschichten erzählt. Am Ende ging es mir darum – vielleicht wie Seume – eine Mischung aus launigen Beobachtungen, kleinen Anekdoten und profunder Analyse zu schaffen. Mit anderen Worten, es sollte ein Text wie ein inhaltsgesättigtes Gespräch werden.

Eine glaubwürdige Analyse erfordert profunde Kenntnisse. Wie lange haben Sie vor der Reise in der Bibliothek gesessen?

Im Grunde gar nicht. Aber ich wollte auch nicht nur auf Seume fixiert bleiben. Goethes „Italienische Reise“ war allerdings wenig hilfreich – im Unterschied zu Attilio Brillis Kompendium von Reiseberichten und Joachim Fests Italienbuch, die ich zur Einstimmung gelesen habe. Außerdem wollte ich keine klassische Bildungsreise unternehmen. Daher konnte ich oft nicht wissen, was ich sehen oder welche Fragen ich mir stellen würde. Ein großer Teil der Recherche fand tatsächlich vor Ort in Gesprächen mit den unterschiedlichsten Menschen statt. Viele von ihnen vermittelten mir Kenntnisse und eröffneten mir Perspektiven, wie man sie in keinem Reiseführer findet. Natürlich blieben Fragen offen, und was mir erklärungsbedürftig erschien, habe ich nachrecherchiert.

Nördlich von Rom steht einsam eine frei stehende Ruine. Schon seit sehr langer Zeit

Wider die Ruinenromantik

Seume als Vorbild zu wählen, führte nicht in allen Aspekten zum Erfolg, musste Oliver Heilwagen erfahren. „Einfach irgendwo anzukommen und gleich ein Bett in der Herberge am Wege zu finden, funktioniert nicht wirklich.“ Plattformen halfen bei der Suche, aber die Buchung erledigte der Reisende am Telefon, dem Kommunikationsmittel der Wahl in Italien, wo der direkte Kontakt nach wie vor alle anderen Verständigungsformen auf die Plätze verweist. „In dem Punkt sind Italiener angenehm altmodisch“, weiß Heilwagen, „auch was das Einhalten von Absprachen angeht.“

In seinem Reisebuch erscheint ein anderes Italien als das der wohlfeilen Mutmaßungen, die das Land als Gegenbild benutzen und missverstehen und die ihm seit Jahrzehnten den Untergang weissagen, teils mit wohlig schaudernder Ruinenromantik.

„Nichts davon stimmt“, hat Heilwagen auf seiner langen, langsamen Reise erfahren. Italien hat seinen kulturellen Reichtum, seine Schätze und Sehenswürdigkeiten auf Hochglanz gebracht, ganz anders, als es Joachim Fest noch vor wenigen Jahrzehnten beschrieb inklusive düsterer Prognose. „Auf lokaler Ebene funktioniert vieles ausgezeichnet“, erzählt Heilwagen und beerdigt einmal mehr ein Klischee. „Man kümmert sich und hält die Gemeinwesen in Schuss. Dabei darf man nicht vergessen, dass ein großer Teil dieses Erfolges im geschmeidigen Zusammenspiel effizienter Organisation mit den sehr lebendigen alten Künsten der Improvisation und der schnellen Anpassungsfähigkeit in unübersichtlichen Lagen liegt.“

Und Seume, der Mann, der tausende Kilometer auf teils abenteuerlichen Wegen zurücklegte? Für Oliver Heilwagen war er Ratgeber und Referenz für das eine oder andere Detail und für den ganz großen Rahmen. Als Reiseführer taugt ein 200 Jahre alter Text eher nicht. In all der Zeit hat sich auch in Italien fast alles geändert, die Wegführung, das Verkehrsaufkommen, die gebaute Umwelt, sogar oft genug die Namen der Ortschaften.

Etwas scheint jedoch die Zeiten überdauert zu haben. Oliver Heilwagen beschreibt es im Kapitel „Memento mori auf dem Acker“. Es ist der Blick auf Vergehendes und Vergangenes. Auf vielen Äckern und auf Brachen entdeckte der Reisende ruinöse Bauwerke, was aber niemanden zu stören schien. Seine Fragen danach quittierte man mit Schulterzucken. Schließlich fand er eine Erklärung. „Eine Kultur, die seit 2000 Jahren mit Ruinen lebt, sieht die Dinge wohl anders.

Fotos: Heilwagen; Ansicht Syrakus: Wikimedia Commons

Oliver Heilwagens „Spazierfahrt nach Syrakus“ ist leserfreundlich in fünf geografisch geordnete Teile gegliedert. Sie sind in jeweils neun bis vierzehn Essays unterteilt, die ebenso als Einzeltexte funktionieren wie als Teile des Ganzen. Häufig verbinden sie Detailbetrachtungen am Wegesrand mit historischen Einblicken und Überlegungen zum Sosein des heutigen Italien. Die Klammer der Texte ist die Reise selbst.