Bücher und Karten sind magische Wesen. Sie scheinen geheime Kräfte zu besitzen, können orientieren oder in die Irre führen. Sie können Wahrheit zeigen oder rundheraus lügen. Ihre Sprache und ihre Schrift muss man beherrschen, um sie zu verstehen. Andernfalls führt die Reise womöglich auf gefährliche Abwege. Wolfgang Crom leitet die Kartenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, eine der größten wissenschaftlichen Kartensammlungen der Welt.
Ich fragte ihn: Ist auch die Karte ein Buch?
Karten lesen
Wolfgang Crom und die Entzifferung der Welt
Ganze Kontinente, gar die ganze Erde in überschaubarer Größe. Die Karten zeigen nicht nur die Namen und Grenzen naher und ferner Länder, sondern auch ihre Gebirgsketten, Gewässer und Bodenschätze. Den nächsten Kontinent erreicht man durch Umblättern. Der Atlas ordnet die Welt.
Oder?
„Karten werden insgesamt trotz ihrer unglaublichen Verbreitung kaum in ihrer Gänze und Komplexität verstanden“, sagt Wolfgang Crom – was die Karten unzweifelhaft mit Sprache und Schreiben gemeinsam haben.
Karten sind mächtige Wesen. Sie bieten Überblick bei gleichzeitiger Vertiefung im Detail. So wie das Buch gegenüber dem Einzeltext Kontur und Kontext bietet, das Wissen ordnet und verstehbar macht, kann die Karte immer mehr zeigen, als man auf den ersten schnellen Blick sieht. Und mehr. „Die Karte ist so genial, weil sie unabhängig vom Ort funktioniert“, beschreibt Wolfgang Crom einen Wesenszug der Karte, dessen Bedeutung kaum je angemessen gewürdigt wird. Man muss es nur einmal zu Ende denken. Funktionieren nicht auch Bücher unabhängig von Raum und Zeit?
„Um ein Buch lesen zu können, muss ich die Schrift lesen können und die Sprache beherrschen. Auch die Karte ist wertlos, wenn mir weder das eine noch das andere zur Verfügung steht.“
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SW Könnte man so weit gehen und behaupten: Auch eine Karte ist ein Buch?
Wolfgang Crom Unbedingt!
Tatsächlich? Warum?
Eine Karte transportiert immenses Wissen. Sie zeigt eine Vielzahl unterschiedlicher Informationen auf höchst mannigfaltige Art. Obwohl …
Ja …?
Aus bibliothekarischer Sicht ist die Karte eigentlich ein Unbuch. Sie hat zumeist keinen namentlich genannten oder bestimmbaren Verfasser. Sie hat keinen aussagekräftigen Titel, oft auch kein Erscheinungsjahr. Statt eines Kollationsvermerks [Angaben zu Umfang, Illustrationen etc.] benötigt sie eine Größenangabe und einen Maßstab. Man kann sie auch nicht so einfach wie ein Buch ins Regal stellen. Und wenn dann noch Vorder- und Rückseite bedruckt sind, haben wir nicht einmal Platz für Signatur und Besitzstempel.
Ein Ding und zugleich sein Gegenteil zu sein, spricht für einen interessanten Charakter. Ist das vielleicht einer der Gründe, warum Karten so schlecht verstanden werden?
Das kann gut sein. Auf den ersten Blick scheint die Karte ja „nur“ ein Bild zu sein. Ein Bild allerdings, das mir kaum etwas sagt, wenn ich das kartographische Alphabet nicht beherrsche. Das Kartenbild ist in einer Symbolschrift geschrieben, die mitunter sehr komplex sein kann. Schließlich muss ich ein dreidimensionales Terrain auf einem zweidimensionalen Medium abbilden und darauf wieder als dreidimensional erkennbar machen – und das ist ja noch nicht alles. Karten enthalten in der Regel noch eine Menge anderer Informationen.
Um ein Buch lesen zu können, muss ich die Schrift lesen können und die Sprache beherrschen. Auch die Karte ist wertlos, wenn mir weder das eine noch das andere zur Verfügung steht.
Nun kann ich ein Buch lesen, wenn es in einer mir bekannten Sprache und vertrauter Schrift verfasst ist. Das heißt aber nicht, dass ich es auch interpretieren kann.
Bei der Karte ist es dasselbe. Um eine Karte interpretieren zu können, muss ich unter Umständen mehr als ein Kartenalphabet kennen. Nehmen wir die Island-Karte von Abraham Ortelius von 1585. Alles, was modernen Betrachtern auf den ersten Blick als bunter Zierrat und Übermut eines allzu fantasiebegabten Kartographen erscheint, ist tatsächlich die Weitergabe knallharter Informationen. So sind etwa Baumstämme vor der Küste ein Hinweis auf gefährliche Meeresströmungen. Anders konnte man sie damals noch nicht darstellen.
Auch die reiche Bildausstattung früherer Karten ist keine Dekoration. Wir fühlen uns aufgeklärt und lächeln auf die putzigen kleinen Monster herab. In Wahrheit sind sie robuste Informationen zur griechischen Mythologie.
Jodocus Hondius: Nieuwe Caerte van het … landt Guiana. Amsterdam, um 1600
„Monströse“ Menschen lebten in der griechischen Mythologie am äußersten Rande der Oikumene, so auch Kopflose oder Acephale. Als europäische Seefahrer erstmals im Mündungsgebiet des noch unbekannten Flusses nackte, kriegerische Frauen beobachteten, glaubte man, die Amazonen entdeckt zu haben. Der Überlieferung nach sollten sie weit im Osten leben. Ein weiterer ‚Beweis’ für die Annahme, man sei an der Ostküste Asiens angelangt, wurde namengebend für Fluss und Landschaft: Amazonas und Amazonien.
Staatsbibliothek zu Berlin Kart. R 15040
„Dass moderne Karten genordet sind und Europa oben in der Mitte liegt, hat etwas mit geopolitischen Entwicklungen und in deren Folge wissenschaftlichen Entscheidungen zu tun, nicht mit natürlichen Gegebenheiten.“
Wenn ich einen Text interpretieren will, muss ich mir stets eine entscheidende Frage stellen: Wer will wem was sagen?
Die kartographischen W-Fragen lauten ganz ähnlich: Wer hat die Karte angefertigt? Für wen wurde sie hergestellt bzw. wer hat sie in Aufrag gegeben? Was genau soll gezeigt werden? Was ist der Zweck der Karte? Wie war der Wissensstand zur Zeit der Entstehung der Karte? Was wusste der Kartograph und welches Instrumentarium stand ihm zur Verfügung? Es ist also vorab festzulegen, welche Projektion, welcher Maßstab und welcher Generalisierungsgrad verwendet werden sollen. Ich muss entscheiden, was hervorzuheben ist und schließlich: Was kann entfallen, damit das Kartenbild nicht überfrachtet wird.
Die Antworten auf alle diese Fragen hatten sicher Auswirkungen auf Gestalt und Inhalt der Karte. Wie kann sie dann noch ein objektives Abbild sein?
Das ist sie nicht. Um eine Karte herzustellen, muss ich zuvor Kriterien festlegen, nach denen sie gestaltet werden soll. Diese Kriterien sind teilweise Konventionen unterworfen und kulturgebunden. Heute halten wir durch die ‚Dauerbeschallung’ mit einer bestimmten Ansicht der Welt diese Darstellungen für quasi natürlich. Aber im Weltraum gibt es kein oben und unten oder rechts und links. Dass moderne Karten genordet sind und Europa oben in der Mitte liegt, hat etwas mit geopolitischen Entwicklungen und in deren Folge wissenschaftlichen Entscheidungen zu tun, nicht mit natürlichen Gegebenheiten.
Wann entstand die Konvention, die wir heute so „natürlich“ finden?
Das geschah vornehmlich erst im 19. Jahrhundert. Mittelalterliche Weltkarten waren nach Osten ausgerichtet oder orientiert genau wie Kirchenbauten. Sie enthielten eine Heilsbotschaft mit Jerusalem als Zentrum und dem irdischen Paradies oben. Die Seekarten der Zeit, die Portolane, waren dagegen nach Norden ausgerichtet. Das hatte pragmatische Gründen, denn für die Bestimmung der Fahrtrichtung wurde der Kompass verwendet. Es finden sich auch gesüdete Karten, die nach unserer Sehgewohnheit auf dem Kopf stehen.
Die Weltkarte des islamischen Gelehrten Al-Idrisi (ca. 1099-1166) ist Teil einer systematischen Geografie (Das Buch Rogers) der Welt. Benannt wurde sie nach dem normannischen Herrscher Roger II. von Sizilien, in dessen Auftrag sie entstand.
Die Karte ist gesüdet, wobei Europa im unteren, rechten Drittel der Karte liegt. Zu erkennen ist das Mittelmeer mit einer Mündung ins Schwarze Meer. In Afrika ist der Nil mit seiner vermeintlichen Abzweigung in den Atlantik zu sehen. Al-Idrisi folgte in mehreren Aspekten Ptolemaios, indem er z.B. die Welt in sieben Zonen einteilte, die sich horizontal vom Äquator nach Norden erstrecken. Al-Idrisi setzt die arabische Halbinsel ins Zentrum seines Weltbildes.
Rekonstruktion der Karte von Konrad Miller, 1929. (CC BY-SA 4.0)
Das heißt, ich kann die Sicht auf die Welt mit einem Kartenbild manipulieren, so wie ich mit sprachlichen Frames zum Beispiel politische Meinungen manipulieren kann?
Natürlich, wobei das nicht die Absicht der Kartographen sein muss. Es sind die Betrachter, die Sicherheit in der Karte suchen, in einem vermeintlich neutralen Abbild der Welt. Manche Kartographen unterstützen solche Ansichten, indem sie behaupten, ihre Karten seien objektiv.
Das ist ein Verständnis der Naturwissenschaften, wie es im 19. Jahrhundert herrschte.
Und wenn ich dann auch als Betrachter denke, ich sei unvoreingenommen und hätte den objektiven Blick auf die Dinge, produziere ich unter Umständen nichts weiter als ein ziemlich schräges Märchenland auf einer unübersichtlichen Karte.
Wenn man einen Blick auf ältere Karten wirft, zeigt sich schnell, dass sie nicht unbedingt der Orientierung im Raum dienten. Um eine der wichtigen Fragen aufzunehmen: Welchem Zweck dienten diese Karten?
Manche Karten dienten, genau wie kostbare Bücher, der Repräsentation. Mit anderen markierten Könige und Fürsten ihr Herrschaftsgebiet. Mittelalterliche Karten zeigen ummauerte Städte. Das Signal war ein doppeltes: „Stadtluft macht frei“, das heißt, in der Stadt ist die Landbevölkerung sicher vor den ständigen Überfällen der Räuber. Den Feinden aber vermittelte man: Hier geht’s nicht weiter. Tatsächlich waren Karten die längste Zeit ihrer Existenz nicht das, was wir uns heute darunter vorstellen.
Sie wurden auch nicht gebraucht. Um von A nach B zu kommen, benutzen wir sie erst seit dem 19. Jahrhundert. Für die Orientierung im Gelände sind Landmarken oder Wegmarkierungen oftmals besser und haltbarer, wie noch heute jeder Wanderer weiß. Wer auf Reisen war, fragte sich durch. Auch Seeleute nutzten in Küstennähe eher Landmarken als Karten.
Die Maßeinheiten waren außerdem nicht das, was sie heute sind. Auf antiken Karten drückten Entfernungsangaben in der Regel nicht die präzise Distanz zwischen zwei Orten aus, sondern übersetzten Raum in Zeit: Wie lang brauche ich für den Weg von A nach B? Wegestunden oder Tagesmärsche blieben in Europa bis ins 18. Jahrhundert gängige Maße. Die Karte „Das Osmanisches Reich in Asien“ (1846) zeigt die Entfernungen in „Kamelstunden“. Die Kamelstunde entsprach einer halben deutschen geographischen Meile.
In einer Zeit, als die Welt noch nicht so voller Karten war, beschrieb der griechische Geschichtsschreiber und Geograph Strabon die ihm bekannte Welt in seiner siebzehnbändigen „Geographie“ allein in Worten. Eine Karte könnte man aus den Angaben nicht zeichnen, erklärt Wolfgang Crom. Allenfalls eine der Art: Vorn Berlin – Mitte Nordsee – Hinten amerikanischer Kontinent. Oder wie Robert Gernhardt es in einem Buch schildert, dessen Titel er Lichtenbergs Sudelbüchern entnahm und in dem er sich sinngemäß auf den Autor bezieht: „Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen.“ In der Mitte der Weltkarte liegt das Dorf in großem Maßstab und äußerst detailliert. London und Paris sind kleine Nebensächlichkeiten. „Je entfernter die Gegend ist, umso unbestimmter wird sie gezeigt“, erklärt Wolfgang Crom. „Und irgendwann heißt es nur noch: da hinten in Afrika …“
Alles eine Frage der Perspektive und des Weltbilds.
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Kartenhelden
Das magische Wesen Karte fand, wen wundert’s, Eingang in die Literatur, sei es die gestohlene Schatzkarte im Gepäck der Seeräuber, seien es gefälschte Karten aller möglichen Spionageabteilungen, sei es das Satellitenbild, das Bösewichte nutzen und manipulieren, um die Welt zu beherrschen.
Wolfgang Crom hat noch etwas ganz anderes herausgefunden: die magische Kraft der Kartographen. In nicht weniger als 30 (steigend) zumeist historischen Romanen – die zugleich Unmengen an Wissen vermitteln – fand er Vermesser, Forscher und Kartenkundige als Helden der Geschichte.
Sie tragen so schöne Titel wie „Der Sultan von Palermo“ von Tariq Ali. Vorbild ist der berühmteste Kartograph des 12. Jahrhunderts Al-Idrisi (Heyne, 2007).
„Mercator, Mord und Möhren“ von Albert Baeumer und Alfred Bekker, Selfkant-Verlag, 2007
„Der Traum des Kartenmachers“ von James Cowan. Die reale Vorlage war Fra Mauro, venezianischer Mönch und Kartograph, der im 15. Jahrhundert das topographische Wissen seiner Zeit in einer berühmten Weltkarte zusammenfasste. Goldmann, 1998
Die Liebe des Kartographen von Petra Durst-Benning verwandelt den echten Georg Gadner, einen herzoglich- württembergischen Kartographen des 16. Jahrhunderts in die Romanfigur Philip Vogel. Ullstein, 2008
u.v.a.m.
Atlas – Die Karte als Buch
Mercator sticht mit einem Zirkel in den magnetischen Nordpol. Er ging davon aus, dass es einen magnetischen Pol auf der Erde geben müsse und berechnete ihn recht. Er widersprach der Kirchenlehre, die den Magnetpol am Himmel wähnte.
Eine Originalausgabe des Atlas von Gerhard Mercator ist einer der kostbarsten Schätze der Staatsbibliothek.
Abraham Ortelius (1527 bis 1598) war zwar der erste, der mit seinem „Theatrum Orbis Terrarum“ 1570 einen Atlas im heutigen Sinne schuf. Es war aber Gerhard Mercator (1512 bis 1594), der einem derartigen kartographischen Werk den Namen gab, den Bücher dieser Art bis heute haben. Sein Kartenband, den sein Sohn Rumold ein Jahr nach Gerhard Mercators Tod abschloss, hieß: „Atlas Sive Cosmographicae Meditationes De Fabrica Mundi Et Fabricati Figura“. Der Atlas enthält insgesamt 107 Karten und – anders als heutige Atlanten – ausführliche Beschreibungen der dargestellten Länder. Namensgeber ist übrigens nicht, wie man lange glaubte, der Titan Atlas, der die Himmelskugel auf seinen Schultern trägt, sondern der König Atlas von Mauretanien, dessen Liebe zur Gelehrsamkeit für Mercator Grund genug war, seinen Namen zu verewigen.
Staatsbibliothek zu Berlin Kart. B 180/3
Und wer sich eines der größten Bücher der Welt ansehen möchte: Hier entlang bitte (ab S. 17)
Für alle, die noch nicht genug haben von den Abenteuern der Kartographie:
Wolfgang Crom: Es ist alles eine Frage des Maßstab
ders.: Die Vermessung der Oikumene
Susanne Weiss: Geniale Doppelstruktur