DISCWORLD IS REAL. It’s the way worlds should work. Admittedly, it is flat and goes through space on the backs of four elephants which stand on the shell of a giant turtle, but consider the alternatives. Consider, for example, a globular world, a mere crust upon an inferno of molten rock and iron. An accidental world, made of the wreckage of old stars, the home of life which, nevertheless, in a most unhomely fashion, is regularly scythed from its surface by ice, gas, inundation or falling rocks travelling at 20,000 miles an hour. Such an improbable world, and the entire cosmos that surrounds it, was in fact accidentally created by the wizards of Unseen University. It was the Dean of Unseen University who in fact destabilised the raw firmament by fiddling with it, possibly leading to the belief, if folk memory extends to sub-sub-sub-sub-atomic particle level, that it was indeed all done by somebody with a beard.
Terry Pratchet; The Science of Discworld III – Darwins Watch

Turtles all the way down

Die Alternativen. Eine einigermaßen kugelförmige Welt, nichts als eine dünne Kruste auf einem brodelnden Inferno. Ein Gesteinsbrocken, der mit 108.000 Kilometern pro Stunde um einen kleinen Stern am Rande einer kleinen Galaxie kreist. Dabei dreht er sich mit 464 Meter pro Sekunde am Äquator um sich selbst, ohne dass die auf ihm lebenden Kreaturen den Halt verlieren. Stünde die Erde plötzlich still, hätte dies die größt mögliche Katastrophe zur Folge. Menschen und Gegenstände flögen einfach weiter wie Passagiere eines plötzlich bremsenden Fahrzeugs, und die Ozeane würden aus ihren Becken schwappen.
Über den Ursprung dieser unwahrscheinlichen Welt erzählt man sich die abenteuerlichsten Geschichten. Womöglich flockte kosmischer Staub, der aus einer kollabierenden Molekülwolke entstand, zu größeren Konglomeraten und sank in die Mittelebene der protoplanetaren Scheibe. Ab diesem Zeitpunkt weiß die wissenschaftliche Kosmologie noch nicht genau, wie es weiterging auf dem Weg zu unserer kugelförmigen Welt

Es gibt Überlegungen, dass Sky Woman durch ein Loch im Himmel Richtung Erde fiel, die zu dieser Zeit fast ganz unter dem großen Ursprungswasser lag und deren Kreaturen keinen Verstand und kein Bewusstsein besaßen. Sky Woman’s Vater sah seine Tochter fallen und rief die Erdkreaturen an, ihr zu helfen. Schildkröte schlug vor, Sky Woman möge auf ihrem Rücken landen. So tauchten einige Tiere in die Tiefe des großen Wassers hinab, um etwas Weiches für Schildkrötes Rücken zu suchen, damit Sky Woman’s Landung angenehmer und sicherer wäre. Fast alle Tiere ertranken, nur die kleine Wasserspinne schaffte es mit letzter Kraft, etwas Erde auf Schildkrötes Rücken zu legen, bevor auch sie starb. Die Erde wuchs. Der Bussard schuf Berge und andere schöne Plätze, indem er die Luft aufwirbelte. Alles war bereit für Sky Woman. Sie landete auf Schildkrötes Rücken und schuf aus ihrem Körper Mais, Bohnen, viele andere Pflanzen, Flüsse und Seen. Vor allem aber brachte sie den Erdkreaturen den Funken des Verstandes und des Bewusstseins.

Gemäß der modernen kosmologischen Kollisionstheorie war die Erde nach Bildung der ersten Kruste überwiegend von Wasser bedeckt. Sie war entstanden, nachdem größere und kleinere Himmelskörper auf die Erde gestürzt waren. Das letzte große Ereignis dieser Art war der Einschlag des Protoplaneten Theia, dem wir unter anderem unseren Mond zu verdanken haben. Theia hatte alle Macht, Großes zu vollbringen, war sie doch eine der Titaninnen und Mutter der Mondgöttin Selene.

Mehr Spekulationen, mehr Ursprünge, mehr Universen

Die Astrophysik hat in den vergangenen Jahrzehnten die ihrerseits erst 100 Jahre alte Vorstellung eines sich ausdehnenden, sich selbst bewegenden Universums und die daraus abgeleitete Frage nach seinem Anfang mit immer neuen Theorien zu beantworten versucht – von Vorgänger- oder Paralleluniversen über das zyklische Aufblähen und Zusammenfallen eines immerwährenden Universums bis zur Theorie vom unendlichen Multiversum.

Die Ursprungssingularität der kosmologischen Standardtheorie, der das Universum entschlüpft, hat nicht von ungefähr Ähnlichkeit mit dem Bild vom kosmischen Ei, das in den indoeuropäischen Kulturen, in Ägypten, Zentralasien und Fernost weit verbreitet ist und dem schließlich Sterne und Elemente entschlüpfen wie auch Götter und Demiurgen, die sich um die weitere Schöpfung kümmern. Nicht nur in populären bildlichen Darstellungen vom Ursprung des Universums blitzt ein helles Licht auf, bevor es sich im Laufe der Milliarden Jahre zu seinem heutigen Umfang ausdehnt. Auch kaum eine wissenschaftliche Darstellung kommt ohne diesen „göttlichen“ Funken aus, den niemand je gesehen hat.

Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Mit einem Mal war die Welt vollkommen verwandelt: Berge und Bäume wurden sichtbar, alles erhielt Konturen, das Wasser begann zu spiegeln, überall blinkte und glitzerte es. Der Rabe freute sich an der erhellten neuen Welt und dass er nun alles sehen konnte, statt im Dunkeln herumzuirren. Als der Adler versuchte, dem Raben das Licht abzujagen, da ließ dieser den letzten Rest fallen, und so entstanden der Mond und die Sterne.

Die Idee vom schlüpfenden Universum oder einem Nichts, das plötzlich explodierte, wurde notwendig, nachdem Vesto Sliphers und Edwin Hubble entdeckt hatten, dass das Universum sich ausdehnt. Es musste also irgendwo herkommen. Einsteins statisches Universum war passé. Wenn man die Ausdehnung zurückrechnete, könnte man zum Anfang von Raum und Zeit vorstoßen, so glaubte man. Astrophysiker behaupten, dem Anfang des Universums bis auf 10-43 Sekunden nahe gekommen zu sein. Vor diesem Zeitpunkt, so sagen sie, gab es keinen Raum, keine Zeit, keine Bewegung. Doch just seit diesem Moment hält sich die Natur an die Gesetze der Physik, wobei es zuvor es logischerweise auch keine Physik gab, die hätte gelten können. Anschließend setzte das Universum seine Expansion fort und war gleichförmig, „simpel und langweilig“, wie die Astrophysikerin Anna Ijjas vom Max Planck Institut für Gravitationsphysik es beschreibt. Aber ist sie das wirklich? Zweifel kamen auf. Da ist zu viel, was nicht stimmen kann am Standard-Urknallmodell und der Vorstellung davon, wie das Universum sich seither verhält. Messungen zeigen nicht, was da sein müsste, und die Vorstellung von einer anlasslosen Quantenfluktuation und einem plötzlich explodierenden Nichts scheint die Vorstellungskraft selbst nüchtern kalkulierender agnostischer Wissenschaftler zu strapazieren. Inzwischen will man die andauernden Verstöße gegen Regeln der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie nicht mehr übersehen. Nicht nur us-amerikanische Kreationisten, auch viele durchaus seriöse, hochspezialisierte Astrophysiker lassen den Gedanken an Kräfte zu, die sich den physikalischen Begriffen entziehen, schlicht, weil für sie logisch nicht erkennbar ist, wie die Frage des absoluten Anfangs innerhalb des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens beantwortet werden könnte. Ohne irgendeinen Bezug auf sinnlich Wahrnehmbares bleiben Anfänge für unser heutiges Denken ebenso undenkbar wie für die Physik. Auch sie ist also letztlich an die Wahrnehmung gebunden. Quantenfluktuation oder Ei oder doch ein göttliches Wort?

Für den Wissenschaftshistoriker David Noble hat die Wissenschaft sich nie wirklich von Religion und Mythos getrennt. Insbesondere das Raumfahrtprogramm der NASA sei auf jeder Ebene von religiös-millenaristischen Überlegungen durchdrungen und ein wesentlicher Treiber der Erforschung des Weltraums. Als nur eines von vielen Beispielen nennt Noble die weltweit übertragene Genesis-Lesung der Apollo-8-Crew am 24. Dezember 1968. Klagen einer atheistischen Vereinigung gegen die Regierung der Vereinigten Staaten wurden in drei Instanzen abgewiesen.

Stephen Hawking erzählt in seiner „Kurzen Geschichte der Zeit“ die kleine Geschichte von einem Wissenschaftler, der einem gebannten Publikum den Ursprung des Universums erklärt. Am Ende des Vortrags wirft ihm eine ältere Dame an den Kopf, er habe ganz offensichtlich Unsinn erzählt. Tatsächlich sei die Welt flach, getragen auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte. Mit überlegenem Lächeln fragt der Wissenschaftler: „Und worauf steht die Schildkröte?“

„Sie sind sehr clever, junger Mann“, entgegnet die Dame. „Natürlich sind es Schildkröten – bis ganz nach unten.“

„Turtles all the way down“, einer hinduistischen Schöpfungsgeschichte entliehen, wurde ein Ausdruck für infiniten Regress, ein logisches Problem, dem die Möglichkeit versperrt ist, den Weg „nach unten“ zu stoppen und das Ziel zu erreichen. Auch moderne Schöpfungserzählungen bekommen es neuerdings mit solchen Problemen zu tun.

Denn wie es scheint, hat auch die wissenschaftliche Eschatologie auf unser aller – unbestimmtes – kosmisches Ende hin ausgedient. Der Big Bounce macht dem Big Bang seinen Logenplatz unter den Schöpfungsgeschichten streitig. Man kehrt, wenn auch hier und da noch zögernd, zu alten Vorstellungen zyklischer Wiederkehr zurück, wie sie vor allem in vielen sehr alten Kulturen Asiens überliefert sind. Bei der Vorstellung, dass unser Universum womöglich nicht das erste, das letzte und vor allem nicht das einzige ist, wird der Blick gleich viel weiter. Was, wenn unser Universum wirklich nur eines von vielen ist, die kommen und gehen, sich ausdehnen und wieder zusammenziehen oder in einem „Big Crunch“ kollabieren und dann in einem Urknall ein neues Universum erzeugen – in einem Zyklus, der sich endlos wiederholt. Turtles all the way down.

Übrigens spüren wir die rasende Erdbewegung nicht, weil die uns umgebende Welt sich mit ihr dreht, die Luft, die wir atmen, der blaue Himmel, der uns erfreut, das Meer, die Berge, die Bäume und das mit immer konstanter Geschwindigkeit. Von der Welle aus betrachtet, steht der Surfer still. Von der Schildkröte aus betrachtet, steht die Erde still, weil auch die Schildkröte mit 108.000 Stundenkilometern durch den Weltraum rast.

Rabe

Als nun der Rabe die neu erleuchtete Welt besah, suchte er nun endlich etwas Neues zu entdecken, und als er eines Tages am weiten Strand des Meeres herumspähte, da sah er eine große Muschel, aus deren Innerem leise Geräusche an sein Ohr drangen. In der Muschel hielten sich kleine, unscheinbare Kreaturen versteckt, aus Angst vor seinem riesigen Schatten. Nun sollte seine Langeweile endlich ein Ende haben, so dachte der Rabe, und er lockte mit seiner weichen, schmeichelnden Stimme so lange, bis die kleinen Wesen aus der Muschel hervorkrabbelten und sich ans Tageslicht wagten. Zuerst erschraken sie vor der gewaltigen Weite des Meeres und dem unermesslich weiten Himmel und zogen sich schnell wieder ins Innere der Muschel zurück. Dann aber war ihre Neugier doch stärker, und sie verließen die Muschel nun endgültig. Der Rabe besah sich diese eigenartigen Wesen, die zwei Beine wie er selbst hatten, sich ansonsten in ihrer Gestalt aber deutlich von ihm unterschieden: Es waren die ersten Menschen, die Haida.

Lucy und die große Unwissenheit

Mit ungewissen Anfängen, unterschiedlichen Bezugsrahmen und wechselnden Perspektiven haben wir es auch zu tun, wenn es um die für uns alle so überaus wichtige Frage geht: Was ist der Mensch? So wie die Schildkröte als Trägerin der Erde in Ewigkeit durch den Kosmos streift und die Wasserspinne selbstlos ihr Leben opfert, um die Vielfalt des Lebens zu ermöglichen, haben Tiere überall auf der Welt auch bei der Erschaffung der Menschen ihre Hand im Spiel. Lange vor den Menschen bevölkern sie die Erde und spielen dann die Hauptrolle in der weiteren Schöpfung und Entwicklung. Auffällig ist, dass wir dabei häufig auf ganz und gar a-moralische Tricksterfiguren wie Raben, Coyoten oder Hasen treffen. Nachdem sie die Menschen erschaffen haben, begleiten sie ihre Geschöpfe fortan als Kulturheroen und zugleich Zerstörer, als Versorger und zugleich Störer der alltäglichen Belange. Sie sitzen zwischen allen moralischen und politischen Stühlen und erinnern die Angehörigen ihrer jeweiligen Kultur permanent daran, dass sie nichts als gegeben hinnehmen dürfen, dass sich immer alles ändern kann und dass sie nicht leichtfertig politischer, gesellschaftlicher und kultureller Trägheit verfallen sollen.

Lucy, eine 3,2 Millionen Jahre alte Äthiopierin, wurde schon kurz nach ihrer Entdeckung 1974 zum Popstar. Benannt nach einem Beatles-Song, der am Abend nach dem spektakulären Fund in Endlosschleife lief, nahm die Welt fortan Anteil an ihrem Schicksal. Man trauerte, als sich herausstellte, dass sie mit erst 25 Jahren durch einen Sturz vom Baum ums Leben gekommen war, schickte ihre sterblichen Überreste auf Tournee um die Welt und benannte Bars und Restaurants nach ihr. 2021 modellierte man für Lucy ein Gesicht, damit das staunende Publikum unserer Vorfahrin, der „Mutter der Menschheit“, wie sie nun gern genannt wurde, von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten konnte.

Das Skelett, das die Paläoanthropologen Donald Johanson und Tom Gray am 24. November 1974 in der äthiopischen Afar-Ebene finden, ist nur gut einen Meter groß. Von 207 Knochen sind 47 vorhanden, der Bau des Beckens zeigt, dass Lucy der aufrechte Gang gegeben ist. Sprechen kann sie noch nicht.

Man klassifiziert sie als Australopithecus afarensis, den „südlichen Affen“ aus der Afar-Ebene und weist ihr eine Schlüsselposition im Stammbaum der Homininen zu, zu denen alle Arten der Gattung Homo gehören, einschließlich der heute lebenden Menschen (Homo sapiens), der einzigen nicht ausgestorbenen Art unter Lucys Abkömmlingen. Die „Mutter der Menschheit“ ist selbst Nachfahrin moderner Menschenaffen, die vor circa 15 Millionen Jahren entstehen und von Afrika aus unter anderem nach Europa aufbrechen.

Die Entdeckung Lucys markiert einen Höhepunkt der Paläoanthropologie, der Wissenschaft von den fossilen Menschen, die seit dem 19. Jahrhundert mit immer spektakuläreren Fossilienfunden einen Aufschwung nimmt und hofft, die großen Rätsel der Menschwerdung lösen zu können. Die Disziplin ist ein Kind der Evolutionstheorie, die sich vor allem mit dem Namen Charles Darwin verbindet. Damals wie heute kommt die Idee, dass Tiere etwas mit der Entstehung der „Krone der Schöpfung“ zu tun haben könnten, nicht überall gut an. Die Vorstellung von göttlicher Schöpfung und Gottesebenbildlichkeit des Menschen wird bis heute vor allem in einflussreichen konservativen Kreisen der USA bevorzugt. Mehr als drei Viertel der Bürger der „Wissenschaftsweltmacht“ zweifeln Darwins Evolutionstheorie an.

Der aztekische Quetzalcoatl, die göttliche Gefiederte Schlange, konnte aus Knochen Menschen erschaffen. Kann die Paläoanthropologie das auch? Kann sie en passant die großen Fragen beantworten, was „der“ Mensch sei, wie er zu dem geworden ist, was er heute ist, mitsamt der Entwicklung der Kultur, der Moral, der Gesellschaft, der Technologie? Fragen mithin, an denen die Philosophie sich seit Jahrhunderten abarbeitet? Ist die Empirie der fossilen Materie, untersucht mit elaborierten „objektiven“ naturwissenschaftlichen Methoden, den „weichen“ Fächern und ihren Spekulationen überlegen?

Gewiss kann die Paläoanthropologie wichtige Beiträge leisten bei der komplizierten Spurensuche im Werden des „nackten Affen“ (Desmond Morris). Über die physiologischen Bedingungen der Menschwerdung können wir heute einigermaßen fundierte Schlüsse ziehen, so wie es auch in der wissenschaftlichen Kosmologie Gewissheiten zu geben scheint. Der Hubble-Parameter, der die Expansion des Universums beschreibt, gilt bis heute als gesetzt. Unglücklicherweise besteht aber der Kosmos zu 95 Prozent aus nicht sichtbarer und nicht messbarer dunkler Materie und Energie, ohne die, wie uns die Astronomen glaubhaft versichern, alles auseinanderfliegen würde. Leider offenbaren uns auch Lucy und die Überreste ihrer Nachkommen längst nicht genug, um über den längsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte jemals sicher sein zu können. Häufig sind es nur Knochen- oder Zahnfragmente, die den Paläoanthropologen zur Verfügung stehen, um den Weg vom Affen zum Menschen nachzeichnen zu können, kleine Puzzleteilchen in einem mehr als komplexen Mosaik. Lucy mit ihren 47 von 207 Knochen ist eine seltene Ausnahme.

Mit anderen Worten: Da ist nicht viel, was wir wissen. Am allerwenigsten wissen wir über die Anfänge der Welt und der Menschen. All unser Wissen beruht auf Annahmen. Was wir nicht wissen, klammern wir aus. Alles Wissen ist stets gesellschaftlich konstruiert, alle Erkenntnis schon im Entstehen politisiert. Dabei laufen wir ständig Gefahr, unser Nichtwissen und unsere Konstruktionen mittels Hypothesen in quasi-Wahrheiten zu verwandeln und Verzerrungen in der Wahrnehmung unserer selbst und unserer Umgebung zu produzieren, hinter deren Rauchschirmen, wie wir sehen werden, Katastrophen lauern.

Wissenschaft als Ideologie

Vor allem, seit die Kirchen als „Agenturen für Eindeutigkeit“ (Rolf Johannsmeier) an Einfluss verloren hatten, geraten Lucy und insbesondere ihre Nachfahren der Art Homo sapiens ins Kreuzfeuer der Kämpfe um Deutungshoheiten. Gottes Geschöpf oder Affe? Killer Ape oder friedlicher Bonobo? Genetisch gesteuerter Egoist oder sozial gestimmtes Kulturwesen? Besitzer von Wahrheit oder Märchenerzähler? Ein Fall für wohltemperierte philosophische Erörterungen oder für knallharte naturwissenschaftliche Empirie? (Das „Oder“ in diesen Fragen zeigt kraftvoll einen tief sitzenden Fehler unserer Denktradition, die allzu oft das Dritte ausschließt, in dem, wie sich häufig zeigt, jedoch sehr gescheite Antworten verborgen sind.)

Zu Lucys immerwährenden Entsetzen bringt der Kalte Krieg Ende der 1950er-Jahre die lange populär gebliebene Theorie vom „Killer Ape“ hervor. Krieg und Aggression, so sein Erfinder, Raymond Dart, seien für den Menschen wesensbestimmend. Darts Behauptung erinnert nicht zufällig an Thomas Hobbes’ Rede vom „Krieg aller gegen alle“, in der er die brutalen Auseinandersetzungen der englischen Eliten um Macht und Pfründe dem gewalttätigen Wesen des Menschen zuschreibt. Im aufkeimenden Neoliberalismus ab Mitte der 1970er-Jahre betritt die Soziobiologie des us-amerikanischen Ameisenspezialisten Edward O. Wilson die Bühne. Sie will das Verhalten von Tieren und Menschen evolutionsbiologisch erklären und außer körperlichen Merkmalen auch geistige Gaben als biologisch entwickelt zu erklären – Darwins alter Traum. 1976 stellt der Zoologe und Bestsellerautor Richard Dawkins der Welt das „egoistische Gen“ vor, erklärt Mutationen von Genen zum zentralen Faktor der Evolution und schreibt den Erbanalagen Schaffens- und Willenskraft zu in ihrer Absicht, das jeweils Beste für ihren stets mit Anderen konkurrierenden Besitzer herauszuschlagen. Die Genetik hatte sich mit der Evolutionstheorie zusammengetan, Kultur als Schöpferin und zugleich Produkt des Menschenmöglichen war suspendiert und damit die grundsätzliche Weltoffenheit des Menschen. Wozu noch historische Kontexte beachten, wenn es doch außer der Biologie kein historisches Subjekt geben konnte? Schon Charles Darwin hatte die Bevölkerungstheorie vom Kampf um Ressourcen des Pastors Thomas Malthus in seine Spielart der Evolutionstheorie eingebaut, eine Theorie, die in harschen bis grausamen Armengesetze mündete. Die Idee vom „Survival of the Fittest“ war eine Antwort, die einfache Lösungen und Erklärungen bot für die turbulente Zeit des Frühkapitalismus, vor allem für die Legitimierung von Ungleichheit.

Was also ist der Mensch? Die Frage ist schlechthin nicht zu beantworten, weil sie schon im Kern falsch gestellt ist. Sie setzt voraus, was erst herzuleiten ist, nämlich den wie auch immer gedachten fertigen Menschen, zumal der Singular einer ahistorischen Anthropologie die Vielfalt des Menschmöglichen niemals erfassen kann.

Es kann daher nicht darum gehen, „den“ Menschen ein für alle Mal positiv zu definieren. Anmaßungen dieser Art haben uns bislang in die Irre geführt, und sie würden es wieder tun. Es kann nur darum gehen, allzu fest gefügte Gewissheiten anzuzweifeln, Fragen zu stellen, das selbstverständlich Geglaubte gegen den Strich zu bürsten und aus dem ganzen Spektrum des Menschenmöglichen konstruktive Vorschläge abzuleiten. Dazu ist es notwendig, die Rauchschirme gesellschaftlicher Konstruktionen zu durchdringen und den jeweils ideologischen Gehalt bestimmter, auch wissenschaftlicher, Menschenbilder zu erkennen, die behaupten, ganz „objektiv“ die reine Natur des Menschen zu zeigen.

Der Mensch der Naturwissenschaften, der Biologie, der Paläoanthropologie, neuerdings der Physik kann nie „der“ Mensch als solcher sein, sondern immer nur der Mensch eines „Gebietssinnes“ (Edmund Husserl). Und so wie die exakten Wissenschaften eine künstliche Welt mit künstlichen Bezugsrahmen und Rechengrößen geschaffen haben, die nichts mit der gelebten, belebten Welt zu tun haben, so erinnert uns der Wissenschaftsforscher Bruno Latour daran, dass auch die andere Fraktion der klugen Köpfe sich nicht unähnlich verhält. „Wir dürfen nie vergessen, dass die Philosophie konträr zur Wirklichkeit erfunden wurde.“ Die Sozialwissenschaften schließlich mussten die Einsicht verkraften, dass auch sie die Gesellschaft nicht als „freischwebende Intelligenz“ (Karl Mannheim) aus der Feldherrenperspektive betrachten konnten, sondern auch nur Teil ihrer eigenen Beobachtungen waren. Auf welchem Wege auch immer man der Wirklichkeit eine Absage erteilt: Nicht nur der Mensch als ganzer gerät dabei aus dem Blick. Wir verschließen auch die Augen vor der Tatsache, dass der Mensch und seine Umwelt sich in einem ununterbrochenen Abstimmungsprozess befinden, in dem nichts von Dauer ist – auch nicht das Wissen, das stets Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse ist und wiederum auf die Gesellschaft zurückwirkt. Turtles all the way down.

Teleologische Zirkelschlüsse

Es fällt uns wider besseres Wissen immer noch schwer, dem Lauf der Dinge einen anderen Zweck zuzuschreiben, als Gesellschaften unserer Art hervorgebracht zu haben – ob nun als Endprodukt der Geschichte oder als Krone der Schöpfung, macht dabei nicht wirklich einen Unterschied.

Im mehrfach ausgezeichneten Film „Lucy“ von Luc Besson (2014) kommt die 25-jährige Protagonistin durch gewisse kriminelle Machenschaften, deren Opfer sie ist, in den Besitz einer sich rasant entwickelnden Superintelligenz. Kurz vor Ende des Prozesses ist sie imstande, Raum und Zeit zu überwinden. Sie reist 3,2 Millionen Jahre in der Zeit zurück, wo sie schließlich auf ihre Vorfahrin Lucy trifft. In einer Szene, welche die „Erschaffung Adams“ von Michelangelo kopiert, schickt die moderne Lucy den Australipithecus afarensis auf die weite Reise, ein Mensch zu werden, als der er dann eines Tages superintelligent in der Zeit zurückreist, um erneut einen Affen auf den Weg zur Menschwerdung schicken, der sich in einem endlosen Kreislauf immer wieder selbst erschafft. Nachdem Lucy ihre Mission erfüllt hat, kehrt sie in die Gegenwart zurück, wo sie sich bei Erreichen der absoluten Intelligenz in bester platonisch-kartesianischer Manier in Luft bzw. „reinen Geist“ auflöst.


[Was ist] der Zweck all dieses neuen Wissens, wenn nicht eine Neugestaltung der Vorstellungen, die wir von uns selbst und unserer künftigen Entwicklung haben? Oder anders ausgedrückt, die Wiederentdeckung unserer dritten Grundfreiheit: der Freiheit, neue und andere Formen sozialer Realität zu schaffen.
Graeber und Wengrow in „Anfänge“

Wir sind tief in diese Zirkel verstrickt. Aus der Beobachtung unseres heutigen Lebens leiten wir Annahmen darüber ab, wie es dazu wohl hat kommen können. Oder ist da der Wunsch der Vater des Gedankens? Wir ordnen die wenigen fossilen Funde zusammen mit etwas ancientDNA und Genomentschlüsselungen in den so konstruierten Rahmen, um schließlich zu beweisen, dass aufgrund eben dieser Vorgeschichte der Mensch genau so geworden ist, wie er eben heute ist, und dass das auch alles seine gute Richtigkeit hat. Aber ist das wirklich so? Übersehen wir nicht die unendliche Vielfalt der Möglichkeiten, die der Lauf der Dinge auch hätte nehmen können? Übersehen wir nicht vor lauter sozial und politisch bereinigten „objektiven Fakten“ die vielen Zufälle und Unberechenbarkeiten, so unwahrscheinlich sie auch sein mögen, die Einfluss auf uns, unsere Entwicklung und unser Leben hatten und haben und die vielleicht das wahre Wesen der Evolution sind, wie der Humanökologe Joseph Meeker behauptet. Endlos ist die Zahl der Möglichkeiten, welche die Entwicklung hätte nehmen können, endlos die Zahl der Geschichten, die erzählt werden können. Wie realistisch ist also unser Bild von der Welt und den Menschen?

Dies alles sind keine akademischen Fragen. Die Vorstellungen darüber, wer und was wir sind, haben Auswirkungen auf unser Verhalten. Menschenbilder, die sich je nach politischer Großwetterlage ändern und dann für eine Weile als gesetzt gelten, haben Einfluss auf Entscheidungen, die uns alle betreffen. Moderne Gesellschaften versuchen, im Grunde wider besseres Wissen, in historisch einmaliger Weise, das gelebte Leben und die Vielfältigkeit des Menschenmöglichen durch wissenschaftlich-technische Systematisierungen zu unterbrechen, Eindeutigkeiten zu behaupten, wo Nicht-Wissen ist, Stabilisierungen da einzuziehen, wo dauernder Wandel ist. Die Illusion, Kontrolle über hyperkomplexe Systeme zu erlangen und aufrechterhalten zu können, während man eine objektive, ahistorische, durchschaubare, stabile, berechen- und messbare Welt postuliert mit Menschen im Prokrustesbett des So-und-nicht-anders, kann sehenden Auges in Katastrophen führen.

Es mag die Kontrollillusionskünstler aller Gattungen schmerzen. Aber die längste Zeit ihrer Entwicklungsgeschichte gelingt es Lucys Nachkommen, ohne exakte Begriffe von der Welt und ohne instrumentelle Techniken die Probleme des Überlebens zu bewältigen. Sie können es, weil sie die Vorteile eines systematisierenden Zugriffes auf die Umwelt problemlos mit der Offenheit für die notwendigen systemischen Anpassungsleistungen vereinbaren können. Das Wasser sucht sich seinen Weg.

Die Katastrophenforschung lehrt uns, dass Menschen sich nicht unbedingt so verhalten, wie viele Zuschreibungen es ihnen unterstellen. Insbesondere in dramatischen Situationen passen sie ihr Handeln an die veränderte Lage an und werden aktiv, um sich und andere zu schützen, ganz anders als das oft bemühte Bild von den hilflosen und passiven Opfern es suggeriert.

Es gibt kein So-und-nicht-anders. Es gibt immer nur ein Sowohl-als-auch, die Wahrheit, die im Dritten zwischen dem Entweder-Oder liegt. Menschen sind grundsätzlich weltoffen und haben im Zuge ihrer Entwicklung eine unendliche Vielzahl kultureller Formen und Spielarten politischen Könnens entwickelt, mit denen sie intelligent und pragmatisch akzeptieren, dass nichts sicher ist und dass die Welt sich in einem stetigen Wandel befindet.

Verabschieden wir uns also besser von der Vorstellung, es existiere die Normalität einer Ordnung, zu der man nach Störungen wieder zurückkehren kann, als sei das richtige Leben ein klassischer Kriminalroman der Marke Cosy Murder, dessen Genremerkmal die Störung und Wiederherstellung der Ordnung durch Aufklärung des Verbrechens ist. Jede Ordnung ist fragil, und Welt und Mensch sind viel mehr als das, was die Wissenschaft ihnen zugestehen will.

Die Wirklichkeit und die Begriffe leben in verschiedenen Universen, deren Wege sich selten kreuzen. Wandel und Scheitern sind normal. Dabei aber stets dasselbe zu wiederholen und andere Ergebnisse zu erwarten, ist ein sicheres Anzeichen für Irrsinn (Albert Einstein).

„Wenn es eine herausragende Geschichte gibt, die wir erzählen sollten, eine bedeutende Frage, die wir (statt der nach den Ursprüngen sozialer Ungleichheit) an die Menschheitsgeschichte richten sollten, dann ist es genau diese: Wie sind wir in einer einzigen Form sozialer Realität stehen geblieben?“
Graber und Wengrow, Anfänge

„Turtles …“ ist ein Text. der in dieser Form nur hier so weiterleben wird. Er ist Teil einer Auftragsarbeit für ein Universitätsinstitut, die Einleitung eines Buches, genauer gesagt. Für dieses Buch schrieb ich den Rahmen und reichte diese Einleitung als Startertext  für das grundlegende Konzept her – und als Lösungsmittel einer Schreibblockade bei den Auftraggebern (gelungen, wie sich herausstellte).

Schöne Texte