Epikur und den Epikureern ging es ähnlich wie den Sophisten oder den Kynikern: Sie wurden von anderen philosophischen Schulen, allen voran derjenigen des Plato, so gründlich diffamiert und verleumdet, dass diese üble Nachrede bis heute nachwirkt. Mit Glacéhandschuhen wurde dabei nicht gearbeitet. Die politischen Vorstellungen der Kyniker führten für Plato zu nichts als einem „Schweinestaat“, seine lang nachwirkenden „sokratischen Feldzüge“ gegen Sophisten und Rhetorikschulen öffneten am Ende der Manipulation Tür und Tor, weil bis heute außer den Manipulatoren kaum noch jemand versteht, wie Sprache funktioniert.
Und Epikur?
Epikur lesen
Epikur steht für viele bis heute da als eine Art sinnenfroher Fettwanst, der Völlerei anheim gegeben und vernüftiger Gedanken nicht wirklich fähig. Dabei hat er nichts weiter getan als seine Philosophie im konkreten Diesseits der wirklichen Menschenwelt zu verankern, anstatt sie ins Geisterreich eines ungefähren unsichtbaren Jenseits zu verbannen.
„Zuerst also“, sagt Epikur, „nichts entsteht aus dem Nichts; denn dann könnte alles aus allem entstanden sein, ohne irgendwie der Samen zu bedürfen. Und wenn das, was im Schwinden ist, ins Nichts verginge, dann wären bereits alle Dinge zugrunde gegangen, und es wäre nichts vorhanden, wohinein sie sich aufgelöst hätten.“
Eine Seele aus Nichts kommt Epikur also nicht ins Haus, vielmehr ist sie „keine eigenständige Entität, sondern „ein feinteiliger Körper […], der in den gesamten Körperkomplex eingestreut ist, am ähnlichsten einem Hauch“, schreibt Epikur an Herodot. Damit kommt er neueren Erkenntnissen über das Menschenwesen ziemlich nahe. Man weiß nämlich inzwischen sehr gut, dass man Leib und Seele und Herz und Verstand nicht voreinander trennen kann – allen unverbesserlichen Leib-Seele-Dualisten zum Trotz und all den derangierten Singularitäts-Sehnsüchtlern zum Schaden (tut uns leid …), die sich irgendwohin laden wollen und dort ohne ihren Körper weitermachen und ewig, ewig leben wollen.
„Der Weise jedoch weicht weder dem Leben aus, noch fürchtet er das Nichtleben. Das Leben ist ihm nicht zuwider, noch hält er das Nichtleben für ein Übel.“
„Die würden sich furchtbar wundern ohne ihren Körper“, erklärte mir einmal ein renommierter KI-Spezialist. Und „oben“ oder auf welcher Ladefläche auch immer angekommen, spricht Epikur zu ihnen:
„Die Stimme des Fleisches spricht: nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Wem dies Begehren erfüllt wird und wer hoffen kann, es ständig erfüllt zu sehen, der könnte sich an Glückseligkeit selbst mit Zeus messen. Wir dürfen das, was wir haben, nicht entwerten durch das Verlangen nach dem, was wir nicht haben.“
Oder wie meine Großmutter zu sagen pflegte: „Halte Maß in allen Dingen. Übermaß wird Schaden bringen.“ Ist doch ein schöner Rat für die Bewohner des aberwitzigen Firlefanzuniversums, die ihr Schicksal geistesgestörten Glücksspielern überlassen, die in ihrem Vollrausch die Zukunft verzocken. Natürlich nicht unsere, denn wir wissen schließlich, wohin wir gehen.
Bevor irgendwelche Missverständnisse aufkommen: Es geht hier nicht um Verzichtsappelle und „Maßnahmen“ eines gescheiterten, aber unverdrossen selbstgerechten Staates. Es scheint, als wisse man sich nicht mehr anders zu helfen, als den Untertanen Wasser zu predigen, während man selbst Wein säuft.
Wir gehen stattdessen in den Kepos
Epikur gründete den Kepos, seinen Garten, im Jahr 307 v.u.Z. als Alternative zu den Schulen der üblichen Auserwählten. Auch Frauen und Sklaven hatten Zugang zum Kepos und dachten und diskutierten und recherchierten und fragten dort wie alle anderen auch – ein Novum und eine Ausnahme, die den Platzhirschen in Sachen Philosophie – Platon mit seiner Akademie und Aristoteles mit seinem Lykeion – ein Dorn im Auge war.
Und dann grenzt Epikur sich auch noch mit Nachdruck von der platonischen Methodik ab, die versucht, (zum Beispiel mittels des sokratischen Prüfungsgespräches), sich der „objektiven“ Wahrheit zu nähern, die allerdings nicht von dieser Welt ist, sondern irgendeiner virtual reality entstammt. Epikur weist den absoluten Wahrheitsbegriff jeglicher Philosophien sportlich zurück und erklärt kraftvoll:
„Ich spucke auf die Vollkommenheit und jene, die sie sinnlos anstaunen, wenn sie keine Lust erzeugt.“
Martha Carli hat uns diesen Text freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Er entstammt ihrem beliebten Schelmenhandbuch.
Menschenmögliche Vernunft
Bei Epikur – wie bei den Schelmen – steht das praktische Wissen stets über der Theorie, auch und besonders in Sachen Moral. (Nichts gegen eine schöne Theorie, wenn sie denn zu irgend etwas führt.
Die Brüder Ideal, Absolut und Objektiv leben im Reich Abstrahien und tun sich schwer mit dem Menschenmöglichen, das ihnen ganz und gar ärgerlich ist und das sie seit jeher mit Prinzipien zu vertreiben versuchen. Sie schicken regelmäßig Putzkolonnen zwischen die Stühle – mit wenig Erfolg, wie wir als Schelme nur zu gut wissen. 🙂
Das Menschenmögliche hält sich viel lieber an die Tugenden, wie Epikur sie beschreibt. Für ihn entspringen sie der Einsicht, mit anderen Worten, ihre Quelle ist die Vernunft.
„Leeres Geschwätz ist die Rede jenes Philosophen, durch die keine menschliche Leidenschaft geheilt wird. Wie wir einer Heilkunst nicht bedürfen, die nicht imstande ist, Krankheiten aus dem Körper zu vertreiben, bedürfen wir auch einer Philosophie nicht, die nicht das Leiden der Seele vertreibt.“
„Anfang und höchstes Gut bei alledem ist die Vernunft“, lehrt er uns. „Deshalb ist die Vernunft sogar wertvoller als das Philosophieren. In ihr wurzeln alle übrigen Tugenden. Sie ist es, die lehrt, dass man nicht freudvoll leben kann, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, aber auch nicht vernünftig, anständig und gerecht, ohne freudvoll zu leben. Denn von Natur aus sind die Tugenden mit einem freudvollen Leben verbunden, und ein freudvolles Leben ist von ihnen nicht zu trennen.“
Wer will da schon darben und sich knechten lassen für einen Stehplatz im Jenseits, wo lebens- und lustfeindliche Götter mit Feuerkeilen und Wassermassen um sich werfen, wenn sie schlechte Laune haben, und dann auch noch unbescholteten Menschen ins Schlafzimmer gucken. Für Epikur sind Götter, die anderen Schwierigkeiten bereiten (anstatt in heiterer Unbeschwertheit jenseits der Menschenwelt zu leben), nichts als bedauernswerte Loser.
„Denn nur bei einem schwachen Wesen sind derartige Regungen möglich.“
Gerechtigkeit und Freude
Auch die Gerechtigkeit ist für Epikur nicht ein Ideal aus dem Reich der Ideen. Auch sie ist eine schöne Tochter der Vernunft, eine „Übereinkunft, die einen Nutzen im Auge hat, nämlich einander nicht zu schädigen und voneinander nicht Schaden zu erleiden.“ Natürlich sieht Epikur die Möglichkeit von Schindluder – gegen das aber auch keine Prinzipienmoral hilft –, zählt aber ganz auf die ausgleichende Gerechtigkeit der Langstrecke
„Wer heimlich gegen die Abmachung verstößt, einander keinen Schaden zuzufügen und voneinander nicht geschädigt zu werden, der darf nicht darauf rechnen, dass er der Strafe entgeht, selbst wenn er für den Augenblick tausendmal unentdeckt bleibt. Denn es ist durchaus ungewiss, ob seine Tat bis zu seinem Tode im Verborgenen bleibt.“
Abgesehen davon, zahlt es sich für den Bösewicht auf Dauer auch nicht aus.
„Reichtum aber, der keine Grenzen kennt, ist große Armut ( … ) und geldgierig zu sein, ist schändlich; denn es gehört sich nicht, schmutzig zu geizen.“
„Denn dann nur haben wir Verlangen nach Freude, wenn wir die Freude schmerzlich vermissen. Wenn wir aber keinen Schmerz haben, bedürfen wir der Freude nicht mehr. Und aus diesem Grunde behaupte ich, dass die Freude der Anfang und das Ziel des glücklichen Lebens ist.“
Und was die Verleumdungen in Sachen Völlerei und Hedonismus angeht:
„Wenn ich nun erkläre, dass die Freude das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer noch die Lüste, die im Genießen selbst liegen, wie gewisse Leute glauben, die meine Lehre nicht verstehen, sie ablehnen oder böswillig auslegen. Ich verstehe unter Freude: keine körperlichen Schmerzen leiden und in der Seele Frieden haben.“
Und zum Schluss ein Epikur speziell für alle Schelme, die die Schönheiten des Kepos ausloten und die menschenmöglichen Möglichkeiten verschiedener Paralleluniversen erforschen:
„Ein Übel ist der Zwang. Doch was zwingt uns, unter Zwang zu leben?“
In der Tat. Was zwingt uns – oder wer – unter Zwang zu leben?
„Ein Mann, der Furcht verbreitet, kann selbst nicht ohne Furcht sein“, gibt uns der Meister mit auf den Weg. Lesen hilft ja immer, auf befreiende Gedanken zu kommen. Mit Epikur zu beginnen, ist nicht die schlechteste Wahl.