Hans-Ulrich Treichel

Die Erfindung des Autobiografischen

„Jeder hat sein inneres Ostwestfalen“, ist Hans-Ulrich Treichel überzeugt. Und so haben seine Helden immer etwas Erde an den Schuhsohlen, wenn sie mit Strickkrawatte und Schlafanzug von Norddeutschland aus zu ihren Sehnsuchtsorten aufbrechen. Treichel, Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller, hat zahlreiche Essay- und Gedichtbände vorgelegt, Opernlibretti geschrieben, seine Romane werden in 26 Sprachen übersetzt. 

„Ich schreibe an meinen Lebenserfahrungen entlang“, sagt der 53-Jährige, für den Herkunft und Werdegang eine wichtige Ressource seiner Arbeit sind. Im Wintersemester 1970 kommt er aus Versmold an die FU, ersetzt die „Sehnsuchtsorte Bielefeld und Gütersloh“ durch Berlin, versucht, sich in einem überwältigenden Studienangebot zurecht zu finden und mit einem für Germanisten ganz typischen Zustand fertig zu werden – der Italiensehnsucht. „Mit der ich Mozzarella aß …“ würde er später dichten, aber zunächst außer Germanistik Italianistik, Politikwissenschaft und Philosophie studieren. Berlin war abweisend, grau und schroff, die Rostlaube durchlief man mit weichen Knien und doch konnte man hier Glück finden: „Tausende von Menschen interessierten sich für Literatur!“

Das Lesen war das Suchen nach dem Schreiben, weiß Treichel heute. Es ging nicht um Stoffe oder Identifikation mit den Figuren. „Es hat mich fasziniert, dass jemand etwas geschrieben hat“. Anfangs wollte er sich noch nicht dazu versteigen, das auch können zu wollen, doch seine ersten Gedichte erscheinen noch während des Studiums. „Hier kann ich abstürzen“, erkennt der Germanist, der gleichwohl die erste ostwestfälische Erde von den Schuhen gestreift hat. „Das bietet nicht die Sicherheit des wissenschaftlichen Diskurses“, weiß der Dichter, der 1983 promoviert, von 1985 bis 1991 als Assistent im damaligen Fachbereich Germanistik arbeitet und sich schließlich 1993 habilitiert.

„Ich wollte Künstler und Germanist sein“, erklärt Treichel die doppelte Karriere. Doch Dichter und Denker zanken nicht: „Beim Schriftsteller sind andere Instanzen aktiviert als beim Wissenschaftler.“

Auch dem Schriftsteller verschafft das Handwerk „Boden unter den Füßen“. Er fand es durch Mimesis, nachdem die Germanisten ihm zu seinem Bedauern zwar das Lesen, nicht aber das Schreiben beigebracht haben. Mimesis heißt für Treichel, die geschriebene Sprache mit ihren Tönen und Formen hören zu können. „Dichter besitzen Musikalität, wenn sie denn welche sind“, ist er überzeugt.

Der Wissenschaftler Treichel will seinen Studenten in Leipzig mehr als Lesen beibringen. „Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller?“, heißt das Buch, das er gerade mit seinem Kollegen Josef Haslinger zusammen herausgegeben hat. Seit 1999 leiten die beiden abwechselnd das Deutsche Literaturinstitut Leipzig (DLL), das einzige deutsche Universitätsinstitut, in dem literarisches Schreiben unterrichtet wird. „Wir behaupten gar nicht, dass man lernen kann, ein Schriftsteller zu werden“, widerspricht Treichel einer gängigen Zuschreibung. „Aber die Vorstellung, dass man Schreiben lernen kann, ist hier zu Lande immer noch sehr ungewohnt“. Das ist in Ländern mit weniger romantischem Geniekult anders. Dass die Studenten Begabung und Berufung mitbringen müssen, versteht sich von selbst – nicht anders als bei anderen Berufen auch. „Wir bieten den Studenten vor allem einen Rahmen, in dem sie kontinuierlich arbeiten und mit Gesprächspartnern auf gleicher Augenhöhe Erfahrungen austauschen können“, erläutert Treichel das erfolgreiche Unterrichtskonzept. Denn wenn in den Feuilletons die vielversprechenden Talente durchgezählt werden, ist immer eines aus Leipzig dabei. Aber wie wird man ein verdammt guter Schriftsteller, wenn man nicht aus Ostwestfalen kommt? Da lächelt Treichel: „Ja, dann wird’s schwierig“.

Unterdessen betreibt er die „Erfindung des Autobiografischen“, transformiert die Lebenserfahrungen, an denen entlang er schreibt: „Die eigene Realität muss nicht der letzte Schluss des Authentischen sein. Wenn man sich neu erfindet, kommt man vielleicht der Wahrheit ein Stück näher.“

Susanne Weiss

Foto: FU