Kleinteilig und kurzweilig
Physik in der Sub-Nanowelt
Physik ist überall. Im Großen wie im Kleinen, im Kosmos wie im Elementarteilchen, in Newtons Apfel und in Quarks, im Radio wie im CD-Player, im Fernrohr und im Rastertunnelmikroskop, in der Dampfmaschine wie im Computer. Physik ist nicht nur Wissenschaft, sondern Weltbild. Doch damit ist jetzt Schluss, hieß es zum Jahrhundertwechsel. Die neue wissenschaftliche Leitkultur seien die Biowissenschaften – aber auch die kommen ohne Physik nicht aus.
Kein Widerspruch
“Moderne molekulare Lebenswissenschaft ist alles gleichzeitig”, sagt Holger Dau, Professor für Biophysik an der FU. „Am Ende ist zwar alles Quantenmechanik“, sagt der Physiker Dau, „das hilft aber nicht weiter bei der Untersuchung lebender Systeme, entgegnet der Biologe in ihm. „Es ist kein Widerspruch“, tröstet der Biophysiker, „es sind nur verschiedene Beschreibungsebenen. Bei der Untersuchung lebender Systeme macht die klassische Trennung der Disziplinen wenig Sinn. Wir arbeiten an der Schnittstelle.“ Eine dieser Schnittstellen ist das Photosystem II, in dem der gesamte atembare Sauerstoff der Erde entstanden ist. „Ein Ökologe muss wissen, wie Sauerstoff entsteht, wie das funktioniert, ist Physik“, sagt Dau. Wie die Sonnenblume sich nach der Sonne dreht, untersucht Prof. Robert Bittl mit physikalischen Methoden. Er erforscht Phototropine, Proteine, die es Pflanzen ermöglichen, Licht zu „sehen“ und ihr Wachstum danach auszurichten. Schaltet man das Phototropin aus, ist die Pflanze orientierungslos.
Langfristig könnten biophysikalische Untersuchungen auch dazu beitragen, dass Sonnenlicht in biomimetischen Systemen direkt zur Erzeugung von molekularem Wasserstoff, dem umweltfreundlichen Autotreibstoff der Zukunft, genutzt werden kann, stellt Holger Dau in Aussicht. Hierbei würde dann – wie in der Photosynthese der Pflanzen – als Ausgangsmaterial Wasser dienen und als ‘angenehmes Abfallprodukt’ Sauerstoff entstehen.
Die Biophysik ist neben der Atom-Molekülphysik und der Festkörperphysik einer der Schwerpunkte im Fachbereich Physik der FU. Es ist eine Verabredung zwischen den drei Berliner Universitäten, sagt Prof. Paul Fumagalli, Dekan des Fachbereichs, um in Zeiten knapper Kassen Doppel- oder Dreifachangebote zu vermeiden. Die Zusammenarbeit mit den anderen Häusern ist gut, sei es im Berliner physikalischen Colloquium, in gemeinsamen Projekten am Berliner Elektronenspeicherring BESSY oder in fünf Berliner physikalischen Sonderforschungsbereichen, von denen zwei an der FU angesiedelt sind.
Das Wasserstoffatom im Universum oder die zerbrechende Tasse
Der Fachbereich ist traditionell in zwei Institute aufgeteilt: Theoretische Physik und Experimentalphysik. Zu den Fundamenten der Experimentalphysik gehören Forscher wie Prof. Günter Kaindl, der die klassische Photonenspektroskopie perfektioniert und für den Fachbereich wichtige internationale Beziehungen etabliert hat oder auch Prof. Klaus Baberschke. Die Methode, die ferromagnetische Resonanz von Teilchen zu messen und zu beeinflussen und damit Aussagen über ihre elektrische Ladung zu machen, beherrscht niemand so gut wie der Dahlemer Experimentalphysiker. International renommiert ist auch der Theoretiker Prof. Hagen Kleinert, der mit einer mathematischen Methode, die das „Quantenzittern“ von Teilchen beschreibt, nicht nur Schwankungserscheinungen in Supraleitern, sondern auch Schwankungen von Börsenkursen erklären kann.
Die Verifizierung der Theorie im Experiment
„Der Großteil der Theoretischen Physik an der FU ist materialforschungs-orientiert, der fundamentale Teil wird kleiner“, weiß der Theoretiker Prof. Bodo Hamprecht. und nennt als Beispiel seinen Kollegen Prof. Eberhard Groß. Der untersucht mit Hilfe der Dichtefunktionaltheorie, einem hoch komplexen mathematisch-statistischen Verfahren die energetische Verteilung der Elektronen im so genannten Geschwindigkeitsraum, ein Verfahren, mit dem man letztlich Rückschlüsse auf die Eigenschaften von Materialien ziehen kann. „Physik ist im Wesentlichen Materialforschung und Kurzzeitphysik, nicht nur an der FU“, erklärt Prof. Nikolaus Schwentner vom Institut für Experimetalphysik, der mithilfe ultrakurzer Laserpulse erforscht, was geschieht, wenn Lichtenergie auf Materie trifft. Natürlich gibt es viele Berührungspunkte zwischen Theorie und Experiment. „Man muss die Mathematik in der Theorie für das Experiment einbinden.“, bringt Schwentner es auf eine griffige Formel. „Die Verifizierung der Theorie im Experiment – und umgekehrt – ist der jeweilige Qualitätsbeweis.“ Auch in der Lehre hat der Fachbereich in den letzten 20 Jahren eine gute Verbindung von theoretischer und experimenteller Physik entwickelt, so Hamprecht und Schwentner, die zusammen eine Lehrveranstaltung zum Thema anbieten. In der Vorlesung „Experimente und Theorie“ bringen sie den Studierenden bei aller Lust am Überblick aber gleichwohl die Detailfreude bei. „Wenn ich etwas über Wasserstoffatome lerne, kann ich nicht sofort mit dem ganzen Universum anfangen“, sagt der Experimentalphysiker „Und wenn ich Tassen durch die Gegend werfe, weiß ich zwar aus Erfahrung, was passiert, aber ich kann es auch berechnen“, entgegnet ihm der Theoretiker.
Ultrakurz und ultraklein
Vor 125 Jahren war ein hochdotierter Preis für die Beantwortung der Frage ausgesetzt, ob sich ein Pferd beim Galopp zumindest mit einem Bein ständig am Boden befindet Ein berühmtes Foto zeigte ein galoppierendes Pferd – abgehoben vom Boden. Möglich wurde das durch eine bahnbrechende Erfindung, den Schlitzverschluss einer Kamera. Damit wurde die Beobachtung von Bewegungsabläufen im Zeitbereich von Millisekunden (10-3 s) möglich. An diese Geschichte erinnert Prof. Ludger Wöste gern, wenn es um Forschungsperspektiven des Sonderforschungsbereichs 450, „Analyse und Kontrolle ultraschneller photoinduzierter Reaktionen“, geht, dessen Sprecher er ist. Die „Kamera“ heutiger Tage ist ein Laser und schafft eine Zeitauflösung im Femtosekundenbereich, 10-15 s. „Mit solchen Ultrakurzzeitlasersystemen hat man die Möglichkeit, den Ablauf chemischer Reaktionen auf atomarer Ebene in Echtzeit direkt zu beobachten, zum Beispiel die unsere Ozonschicht bedrohende Reaktion von natürlichem Ozon mit vom Menschen verursachten Chlor“, beschreibt Wöste die Möglichkeiten des unvorstellbar kurzen Augenblicks für die Umweltdiagnostik.
Moleküle in Bewegung
Ein Glas Wasser hat eine Quadrillion Moleküle. Prof. Karl-Heinz Rieder gelingt es, einzelne Moleküle nicht nur zu „sehen“, sondern auch zu bewegen. Ihm und seinem Kollegen Dr. Sav-Wai Hla gelang im Jahr 2000, was bisher außer ihm nur eine Arbeitsgruppe in Deutschland kann. Sie beraubten zwei Benzolringe jeweils ihres Jodatoms und „schweißten“ sie aneinander – mit einem Rastertunnelmikroskop. Eingebettet ist diese Forschung in den Sonderforschungsbereich 290 „Metallische dünne Filme: Struktur, Magnetismus und elektronische Eigenschaften“, dessen Sprecher Rieder ist. „Wenn elektronische Bau- und Schaltelemente immer kleiner werden, können sich die physikalischen Eigenschaften der Materialien infolge von Quanteneffekten gegenüber denen des Volumenmaterials drastisch verändern“, sagt Rieder. Metallische dünne Filme können seltsame Eigenschaften haben. Metalle, die in makroskopischer Form nicht magnetisch sind, können als Dünnfilm – nur wenige Atomlagen dick – recht anziehend wirken. Wenn man dünne Schichten und Halbleiter mit „normalen“ Metallen zusammenbringt, kann man erreichen, dass beide Systeme bei Zimmertemperatur ferromagnetische Eigenschaften haben. Diesen Veränderungen ist man im Sonderforschungsbereich auf der Spur.
Auch Paul Fumagalli arbeitet und forscht im Sfb 290. Und auch er untersucht magnetische Eigenschaften von Materialien. Aber Fumagalli kommt den Dingen nicht zu nahe. Er untersucht sie mit Licht. Seine Methode – und sein Forschungsgebiet – ist die Magneto-Optik. „Der Vorteil der Methode ist, dass sie berührungsfrei funktioniert“, erklärt Fumagalli. „Es gibt Dinge, an die man nicht nahe genug herankommt, um sie mit anderen Methoden zu untersuchen.“ Schicht für Schicht löst er die Materialien berührungsfrei auf und findet so heraus, wie sie „miteinander reden“. Die Sprache: Magnetismus.
Grenzfälle
Die Miniaturisierung der Elektronik hat auch die Theoretische Physik zu neuen Forschungen angeregt. Wie klein muss ein Teilchen sein, um quantenmechanisches Verhalten zu zeigen, wie groß, um sich wie ein klassisches Teilchen zu verhalten? An der FU erforscht Prof. Felix von Oppen den Übergang zwischen dem quantenmechanischen Verhalten mikrokosmischer Systeme und dem klassischen Verhalten makrokosmischer Systeme. Untersucht man zum Beispiel elektronische Bauelemente bei tiefen Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt, spielt die quantenmechanische Natur der Elektronen, das heißt deren Welleneigenschaften, eine wichtige Rolle bei so elementaren Eigenschaften wie dem elektrischen Widerstand. „Ziel der mesoskopischen Physik ist es, die Regeln für solche quantenmechanischen Schaltkreise zu verstehen und zu untersuchen, wie sie für größere Bauelemente oder für höhere Temperaturen in die ‚aus der Schule’ bekannten Regeln übergehen“, erläutert Felix von Oppen sein Forschungsinteresse. Und vielleicht kann man diese neuen Eigenschaften für ganz neue Bauelemente ausnutzen.
Der ordnende Gedanke
An der FU ist das Zeitalter der Physik noch lange nicht vorbei, auch wenn ihre Vertreter keine „Theory of Everything“ (TOE) in Aussicht stellen, wie sie Popstars der Zunft wie Stephen Hawking prophezeien. Viel wichtiger ist es, „eine Sprache finden, um mit anderen Disziplinen zusammen zu arbeiten“, findet Dekan Paul Fumagalli. Ihm geht es vor allem darum, gemeinsam Projekte zu entwickeln und Forschungsziele zu definieren. Für die meisten Physiker sind „Theorien für alles“ ohnehin Metaphysik, die „Religion von heute“. Mehr als die Suche nach der Weltformel ist Physik „die Suche nach dem ordnenden Gedanken“, meint Bodo Hamprecht, so wie Newton sich fragte: „Was haben Ebbe und Flut und der fallende Apfel gemeinsam?“
Der ordnende Gedanke hieß Gravitation.
Susanne Weiss
Abb.: WW / FU